Anthroposophie und die Würde des Menschen – eine Rezension
Dieser Rezension von "Der ethische Universalismus und sein kulturgeschichtliches Dilemma: Ein philosophisch-kritischer Essay unter besonderer Berücksichtigung aktueller Kritik an der Anthroposophie Rudolf Steiners" von Marcelo da Veigas Buch ist zuerst in der Zeitschrift Anthroposophie erschienen.
Die Anthroposophie hat zurzeit in der Gesellschaft einen relativ schweren Stand, weil verschiedene Kritiker sie wegen einiger Äußerungen Rudolf Steiners zu diffamieren suchen. Marcelo da Veigas umfangreicher Essay, der dem entgegentreten soll, beruht auf einer langjährigen Beschäftigung mit Rudolf Steiners Werk. Diese begann währendder Studienzeit. Zu seinem allgemeinen Interesse für Philosophie, Religion und Spiritualität kam die Anthroposophie, bei deren Ideen er spürte, dass sie zukunftsträchtig sind und einen Weg finden lassen, der die verschiedensten Menschen verbindet. Einige heute irritierende Aussagen Rudolf Steiners schienen nicht dazu zu passen. Marcelo da Veiga bemühte sich um eine differenzierte Auseinandersetzung mit diesem Problem; was er fand, ging in das vorliegende Buch ein, das nach einer Anfrage des Forschungsrings e. V. entstand.
Grundlage der Betrachtungen ist die «Idee unveräußerlicher universeller Menschenrechte, wie sie sich in der europäischen Kulturgeschichte seit der Aufklärung ausgebildet hat» (S. 3). Sie wurde zum geistigen Fundament, um auf die Vorwürfe einzugehen. Eindeutig heißt es hier in Anlehnung an Kant: «Der ethische Universalismus verankert die Würde des Menschen in der Idee der Mündigkeit und moralischen Selbstbestimmung, unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Nationalität oder kultureller Prägung.» (S. 3) Nach dieser Einführung in Definition und Grundgedanken des ethischen Universalismus, einer humanistischen Idee, geht da Veiga auf die Begriffe «Rasse» und «Rassismus» ein.
Die Bezeichnung «Rasse» für verschiedenartige Menschen war in der Aufklärung rein beschreibend. Erst im Laufe der Neuzeit veränderte sich der Rassebegriff. – Der aus dem US-Amerikanischen stammende Ausdruck «Race» ist lediglich eine sozialwissenschaftliche Analysekategorie, die nur die politischen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten von Weiß- und Nichtweißsein beschreibt. Dieser kann keinesfalls mit dem Wort «Rasse» übersetzt werden, wie es im Deutschen verstanden wurde. Erst der Rassismus im 19. und 20. Jahrhundert in Verbindung mit dem Nationalismus führte zur Katastrophe.
Nach den beiden Weltkriegen legten die Vereinten Nationen 1948 die Charta der Allgemeinen Menschenrechte fest. Da die USA nicht zustimmten, musste sie eine Empfehlung bleiben. Und doch lag dadurch ein Maßstab vor, der immer mehr zu einer Sensibilisierung für diese Fragen in der Bevölkerung führte. Es wurde neuerdings auch scharfe Kritik geübt an rassistischen oder diskriminierenden Äußerungen von Autoren der europäischen Kulturentwicklung, die im Kern ja gerade diese positive Entwicklung verfochten hatten, so z. B. an Platon, Martin Luther, Johann Gottlieb Fichte, Rudolf Steiner, Hermann Hesse und sogar Immanuel Kant! Kritiker sehen dabei oft nicht das Wesentliche: Der Gebrauch der Ausdrucksweisen hat sich verändert! Es werden zahlreiche Beispiele von für heute Inakzeptables gebracht, das damals zeitgemäß war. – Rassismus kann aber nur vorliegen, wenn mit Absicht diskriminiert werden soll.
In da Veigas Buch geht es insbesondere um die Kritik an Rudolf Steiner, die erst in späteren Jahren auftrat. In der Öffentlichkeit steigerte sich die Ablehnung gelegentlich bis hin zur Häme; unverhältnismäßig, undurchdacht und dazu noch eurozentrisch, also nicht von allgemeiner Menschlichkeit geprägt. Vielen Kritikern war und ist es auch nicht möglich, die relativ wenigen gegensätzlichen Bewertungen ambivalent zu betrachten und einzuordnen. Hierdurch sind sie auch nicht fähig, die Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie zu erkennen.
Nie ist Rudolf Steiner als rassistischer Ideologe aufgetreten, sondern immer wieder wandte er sich gegen derartige Diskriminierungen. Die anthroposophischen Verlage hätten schon früher offensiv mit einigen Äußerungen Steiners umgehen können, ja müssen. Hier wird das Rudolf-Steiner-Archiv als vorbildlich eingestuft.
Man sollte sich durchaus einmal fragen: Seit dem 2. Weltkrieg ist aus Asien viel Geistigkeit zu uns gekommen, die teilweise der Anthroposophie nahesteht; am bekanntesten sind vielleicht die Achtsamkeitsübungen. Millionen hängen diesen Gedanken an, und niemand regt sich darüber auf, während ein paar tausend Anthroposophen (12.000 in Deutschland) für ähnliche Inhalte teils verunglimpft und ausgegrenzt werden. Denn die Anthroposophie erscheint den Kritikern esoterisch als gar zu absonderlich! Vergessen wird auch, dass Rudolf Steiner sich intensiv mit Goethe, Schiller und dem Deutschen Idealismus beschäftigt hatte.
Was heißt eigentlich «esoterisch»? Bei Platon hieß es «wissenschaftlich anspruchsvoll». Und bei Wikipedia immerhin «innerlich, spirituell». Marcelo da Veiga sagt eindeutig, dass das gängige westliche Wissenschaftskonzept nicht geeignet sein muss, alles in der Welt zu erklären, das wäre «kulturgeschichtlich übergriffig» (S. 60). Carl Friedrich von Weizsäcker sprach in Bezug auf die heutige Wissenschaft sogar von einem zeitgenössischen religiösen Konzept. (S. 61)
Was bleibt zu tun? Wir müssen die Grundlagen unserer Kultur ausbauen, indem wir unser Wissenschaftsverständnis erweitern: auch und gerade hin zu spirituellen Inhalten, selbst zu uns fremd erscheinenden. Denn es geht um Bildung und Erkenntnis als Grundlage für eine neue Gestaltung der Gesellschaft.
Ein schmales Buch mit brisantem Inhalt! Wieder einmal: Es geht um das genaue Wort. Die Bedeutungen sind fließend; nach 100 Jahren kann ein Ausdruck sich ins Gegenteil verkehrt und zum Unwort entwickelt haben. Außerdem ist zu berücksichtigen: In den modernen Sprachen haften die Bedeutungen nicht mehr an den Worten allein, sondern müssen aus der Zeit, dem Kontext usw. verstanden werden.
Der Text ist äußerst komprimiert; hier stimmt jedes Wort. Nur bei der Orthografie gibt es störende Stellen. Ihre Korrektur würde den Gesamteindruck noch verbessern. – Auffällig ist die gute Überleitung von einem Thema zum nächsten; der jeweils letzte Satz bereitet auf das neue Kapitel vor, sodass sich der Text flüssig liest.
Mehrere Zusammenfassungen erhöhen die Stringenz des Verständnisses beim Leser. Eine der interessantesten Ausführungen betrifft die Entwicklung der Sprache und ihre Veränderung. Bildlich gesehen ist das wie ein Bach, der sich durch die Landschaft schlängelt und ihren Gegebenheiten anpasst, die sich im Laufe der Zeit stark ändern können. Auch die Sprache passt sich geistigen Gegebenheiten an. Hier kann man einen Begriff wie «Zeitgeist» im Vergleich geradezu sichtbar machen. Sogar Derartiges vermittelt dieses außergewöhnliche Buch. Man lernt dabei auch, die Vielschichtigkeit und Ambivalenz vieler Dinge zu durchschauen. Marcelo da Veiga ist ein Meister der differenzierten Betrachtung, unter dessen aufmerksamem Blick die Dinge lebendig werden. Dies ist der größte Eindruck des Buchs.
Marcelo da Veiga. Der ethische Universalismus und sein kulturgeschichtliches Dilemma: Ein philosophisch-kritischer Essay unter besonderer Berücksichtigung aktueller Kritik an der Anthroposophie Rudolf Steiners. CEST Edition. 2024
Erstveröffentlichung des Beitrags in der Zeitschrift Anthroposphie 04/2024