Im Zentrum der wiederholt erhobenen Antisemitismus-Vorwürfe gegen Steiner steht eine Äußerung aus einer 1888 geschriebenen Besprechung zu einem Werk des österreichischen Dichters Robert Hamerling, wo Steiner in einer Zeitschrift schreibt:
Es ist gewiss nicht zu leugnen, dass heute das Judentum noch immer als geschlossenes Ganzes auftritt und als solches in die Entwicklung unserer gegenwärtigen Zustände vielfach eingegriffen hat, und das in einer Weise, die den abendländischen Kulturideen nichts weniger als günstig war. Das Judentum als solches hat sich aber längst ausgelebt, hat keine Berechtigung innerhalb des modernen Völkerlebens, und dass es sich dennoch erhalten hat, ist ein Fehler der Weltgeschichte, dessen Folgen nicht ausbleiben konnten. Wir meinen hier nicht die Formen der jüdischen Religion allein, wir meinen vorzüglich den Geist des Judentums, die jüdische Denkweise.[1]
Diese Äußerung ist – obwohl sich Steiner seinem Selbstverständnis nach vom krassen Antisemitismus des damaligen Österreich distanzierte – geradezu klassisch antisemitisch, schon weil sie stereotyp und abgrenzend von einer „jüdischen Denkweise“ spricht, vor allem aber, weil sie dem Judentum eine „Berechtigung innerhalb des modernen Völkerlebens“ abspricht und sich sowohl gegen die jüdische Religion als auch gegen „den Geist des Judentums“ richtet. Sie ist auch nicht dadurch zu rechtfertigen, dass das liberale Judentum des späten 19. Jahrhunderts selbst teilweise stark zur Assimilation drängte und an seiner Identität zweifelte.
Später rückte Steiner jedoch von dieser singulären antisemitischen Äußerung ab. Er gestand seine anfängliche Unterschätzung der Gefahr des Antisemitismus ein und kritisierte ihn nun ausdrücklich selbst. Er wurde sogar publizistisch für den „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ tätig, mit dessen Verantwortlichen er z. T. freundschaftlich verbunden war. In einem seiner Aufsätze schrieb er knapp 13 Jahre nach der oben zitierten Äußerung:
Wer offene Augen für die Gegenwart hat, der weiß, dass es unrichtig ist, wenn man meint, es sei die Zusammengehörigkeit der Juden untereinander größer als ihre Zusammengehörigkeit mit den modernen Kultur-Bestrebungen. Wenn es in den letzten Jahren auch so ausgesehen hat, so hat dazu der Antisemitismus ein Wesentliches beigetragen. Wer, wie ich, mit Schaudern gesehen hat, was der Antisemitismus in den Gemütern edler Juden angerichtet hat, der musste zu dieser Überzeugung kommen.[2]
Steiners Äußerungen zum Judentum blieben allerdings auch weiterhin, obwohl er beispielsweise den geistigen Beitrag der alt-hebräischen Kultur für die Geschichte der Menschheit sehr würdigte, teilweise ambivalent. Denn durch seine ab der Jahrhundertwende verstärkte Beschäftigung mit dem Christentum übernahm Steiner in seinem weiteren Vortragswerk auch manche antijudaistischen Stereotypen der christlichen Religion, die seit Paulus und Augustinus dazu neigte, dem Judentum nach dem Auftreten des „Erlösers“ historische „Überlebtheit“ vorzuwerfen. Die Überwindung dieses latenten Antijudaismus bleibt eine Herausforderung auch für heutige Anthroposophen.[3]
[1] Rudolf Steiner: Robert Hamerling: „Homunkulus. Modernes Epos in 10 Gesängen“. Deutsche Wochenschrift 16 / 17 (1888), in: Rudolf Steiner: Gesammelte Aufsätze zur Literatur 1884-1902. GA 32, Rudolf Steiner Verlag, 3. Auflage, Dornach 2004. Seite 145 ff. Die Kommission Anthroposophie und die Frage der Rassen hat dieses Zitat in die Kategorie I (Zitate mit diskriminierender Wirkung) eingeordnet. [Zitat 192]
[2] Rudolf Steiner: Verschämter Antisemitismus, Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus 1901, II. Jahrgang, Nr. 48, enthalten in Rudolf Steiner: Gesammelte Aufsätze zur Kultur- und Zeitgeschichte 1887-1901. GA 31. Rudolf Steiner Verlag, 3. Auflage, Dornach 1989. S. 409. [Zitat 202]
[3] Zum Thema Rudolf Steiner und das Judentum siehe grundlegend die Studie von Ralf Sonnenberg: „Keine Berechtigung innerhalb des modernen Völkerlebens“. Judentum, Zionismus und Antisemitismus aus der Sicht Rudolf Steiners,in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, herausgegeben von Wolfgang Benz für das Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin, Berlin 2003 S. 185 - 210.