Ein grundsätzliches Problem in Bezug auf Diskriminierungsfragen, das hier nur angesprochen, aber nicht abschließend geklärt werden kann, ergibt sich dadurch, dass in der Geschichte und insbesondere in der Gegenwart zeitgleich immer Vertreter mehrerer unterschiedlicher Kulturen bzw. Bewusstseinsformen vertreten sind. Werden nun einzelne Formen als Repräsentanten einer Hochkultur oder „Höherentwicklung“ identifiziert, so liegt es nahe, dass sich Vertreter von aus dieser Sicht früheren Entwicklungsstufen zurückgestellt und unterbewertet erleben und dass umgekehrt aus der vermeintlichen „Höherentwicklung“ politische oder ideologische Ansprüche abgeleitet werden. Auch eine an Steiner anknüpfende, evolutionär ausgerichtete Kulturforschung wird sich daher selbstkritisch mit der Gefahr chauvinistischer Abirrungen von Kulturvergleichen auseinandersetzen müssen. Steiners Sicht der Menschheitsentwicklung als eines evolutionären Prozesses, der im Laufe der Geschichte von niederen zu höheren Kultur- und Bewusstseinsstufen führt, transportiert allerdings, sofern die Dimension der „Rassen“ ausdrücklich ausgeklammert wird, für sich genommen durchaus keine rassistischen oder chauvinistische Implikationen, wie manche Kritiker unterstellen. Fragwürdig wird es nur dann, wenn man kulturelle Evolution an die Zugehörigkeit zu bestimmten Ethnien oder überhaupt an vorgegebene Kollektive koppeln wollte. Positiv formuliert: in der Gegenwart gibt es keine grundsätzlichen Einschränkungen kollektiver Art für ein Individuum, gleichberechtigt und selbst bestimmt jede von ihm gewünschte Bewusstseinsstufe zu erreichen. Umgekehrt kann die berechtigte Sorge vor einer chauvinistischen Hierarchisierung von Kultur als Weiterentwicklung von Bewusstsein verstanden, nicht bedeuten, den für die Anthroposophie – wie auch für andere humanistische Ansätze – zentralen Gedanken der individuellen Bewusstseinsentwicklung des Individuums in Misskredit zu bringen, von der auch die Entwicklung der Gesellschaft abhängig ist.
Wie wichtig der Entwicklungsgedanke als solcher ist, zeigt allein schon ein gängiger Begriffe wie „Entwicklungszusammenarbeit“, der selbstverständlich von unterschiedlichen Entwicklungsniveaus von Gesellschaften ausgeht. Auch kommt bei Fragen der Entwicklungsperspektiven von Schwellenländern heute etwa der Terminus „vor-moderner“ Gesellschaften im Spiel, wenn es um Defizite in den Bereichen Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, freier Zugang zu Wissen und Märkten geht, ohne dass die Differenzierung in „modern“ und „vormodern“ unweigerlich eine Diskriminierung beinhalten würde. Diese Gefahr wird nämlich dadurch gebannt, dass man unzweideutig von kulturellen Entwicklungsschritten im Sinne einer Bewusstseinserweiterung spricht. Diese sind als geistige Errungenschaften prinzipiell allen Menschen zugänglich und nicht etwa an eine bestimmte ethnische Zugehörigkeit gebunden.
Alles andere würde im Übrigen auch Steiners eigener individualistischer Ethik widersprechen. Die Kulturentwicklung der Menschheit in evolutionäre Schritte und Stufen zu gliedern kann nie bedeuten, dass aus kollektiven Bewusstseins- oder Kulturqualitäten eine Art Determinismus entsteht, wonach Angehörige einer bestimmten Kultur kollektiv auf bestimmte Merkmale oder Verhaltensweisen festgelegt wären. In der konkreten Darstellung von ethnischen oder volksmäßigen Eigenarten in seinen Vorträgen hat Steiner, anders als zum Beispiel in seinem philosophischen Hauptwerk Die Philosophie der Freiheit[1], den Vorrang des Individuellen vor dem Kollektiven allerdings nicht immer klar betont[2]und die Verwendung organischer Analogien und kollektiver Typologien überlagert oftmals den eigentlich emanzipatorischen Individualismus seines Weltbildes. Insofern stellt Helmut Zander zu Recht fest: „Steiner reflektiert praktisch nicht über die Interpretationsbedingungen der von ihm benutzten Modelle, so dass die Zwänge einer organologischen Metaphorik, vor allem die vermeintliche Naturgesetzlichkeit ihres Ablaufs, nicht reflektiert werden“.[3] Die Äußerungen Steiners zu diesem Punkt sind nicht immer eindeutig.
[1] Rudolf Steiner: Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung (1894). GA 4
[2] Dabei überzeugt auch das häufig von Anthroposophen vorgebrachte Argument nicht, dass unter der Voraussetzung der Wiederverkörperung des Individuums durch die unterschiedlichsten Ethnien, Kulturen und Völker hindurch ohnehin der unterstellte „niedere“ Rang bestimmter Entwicklungsstufen relativiert werde, da somit auch deren Angehörige durch Wiedergeburt die Chance hätten, zu „höheren“ Stufen aufzusteigen. Diese Sichtweise ist für Betroffene, die auf einer mutmaßlich „niederen“ Stufe angesiedelt werden beziehungsweise die Annahme der Wiederverkörperungsidee gar nicht teilen, diskriminierend.
[3] Helmut Zander: Anthroposophische Rassentheorie. in: S. v. Schnurbein und J.H. Ulbricht (Hg.): Völkische Religion und Krisen der Moderne. Würzburg 2001, S. 322