Trotz der in dieser Gruppe angeführten rassistischen Äußerungen ist Rudolf Steiner kein Rassist und kein Vertreter einer „Rassenlehre“ im Sinne einer Ideologie der Sicherung von rassisch begründeter Vorherrschaft. Insbesondere fehlt bei Steiner – im Unterschied etwa zu populären rassistischen Autoren seiner Zeit wie Gobineau, Spencer oder Chamberlain – das für Rassismus typische „Hauptthema“, „der Kampf als ‚Rassen‘ imaginierter Gemeinschaften um Selbstbehauptung, Geltung, Überlegen und Überlegenheit“ sowie „die kollektive Anfeindung bis zum Vernichtungswillen“.[1] Auch die für den Rassismus typischen Bedrohungs-Szenarien eines angeblich ausgewählten Abstammungskollektivs gibt es bei Steiner nicht. „Steiner entwickelt keine geschlossene Rassentheorie für die gegenwärtige Menschheit“, befindet die Steiner-Kritikerin Jana Husmann-Kastein[2] und Helmut Zander, Autor der bisher umfangreichsten historisch-kritischen Studie zu Rudolf Steiner, fasst zusammen: „Mit manchen Äußerungen wird der Rassismus manifest, mit anderen hat Steiner sich explizit vom Rassismus seiner Umwelt distanziert.“[3] „Historiker wie George L. Mosse, Jörn Rüsen oder Uwe Puschner haben daher zu Recht Vorbehalte gegenüber dem Versuch angemeldet, Steiner unter die völkischen „Systembauer“ und Aktivisten einzureihen“, stellt auch Ralf Sonnenberg im Jahrbuch für Antisemitismusforschung fest.[4]
Steiner kritisierte vielfach sogar ausdrücklich die Betonung bluts- und traditionsgebundenen Differenzen:
Ein Mensch, der heute von dem Ideal von Rassen und Nationen und Stammeszugehörigkeiten spricht, der spricht von Niedergangsimpulsen der Menschheit. Und wenn er in diesen sogenannten Idealen glaubt, fortschrittliche Ideale vor die Menschheit hinzustellen, so ist das die Unwahrheit, denn durch nichts wird sich die Menschheit mehr in den Niedergang hineinbringen, als wenn sich Rassen-, Volks- und Blutsideale fortpflanzen.[5]
Und ausgerechnet in jener Vortragreihe zum Thema „Volksseelen“, in der sich mitunter sehr stereotype Rassenklischees finden, heißt es andererseits sehr grundsätzlich:
Die Rassen sind entstanden und werden einmal vergehen,
und im Zeitraum der kommenden Jahrhunderte werde die Menschheit in Verhältnissen leben, in dem
keine Rede mehr sein kann von einem Zustande, den wir als Rasse werden bezeichnen können.[6]
All dies widerspricht systematischem Rassismus, der stets auf dauerhaften Bestand und Optimierung eines speziellen Abstammungszusammenhangs abzielt. Die völkische Ideologie hat Steiner und die Anthroposophie stets als Gegner behandelt.[7]
Im Zentrum von Steiners Anthroposophie steht – trotz einzelner zeitgebundener rassistischer Äußerungen – die ganzheitliche Entwicklung des individuellen Menschen sowie einer Gesellschaft, die von der Entwicklung der Einzelnen zur Freiheit profitieren soll. Jene Gleichzeitigkeit von historisch überholten Schwachstellen in einem humanistischen Gesamtwerk teilt Rudolf Steiner mit anderen historischen Autoren wie Luther (Antisemitismus), Kant (Diskriminierung von Schwarzen) oder Albert Schweitzer und Hermann Hesse (teilweise Stereotypisierung von Afrikanern).[8] Die bereits mehrfach erwähnte niederländische Kommission Anthroposophie und die Frage der Rassen bezeichnet daher einen Großteil der Kritik an Steiner als „selektive Empörung“. Tatsächlich werden auch von den meisten deutschsprachigen Kritikern in der Regel einzelne Textstellen herausgesucht und sowohl qualitativ wie auch quantitativ im Blick auf das Gesamtwerk überbewertet. Das ändert jedoch weder die Tatsache, dass die entsprechenden Zitate in der vorliegenden gedruckten Form diskriminierend sind, noch die Notwendigkeit, den historischen Autor Steiner auch als Angehörigen seiner Zeit zu verstehen. Dabei geht es nicht um eine „Distanzierung“ von Steiner, was einem knapp einhundert Jahre zurückliegenden Werk der Geistesgeschichte gegenüber unangemessen wäre, sondern darum festzustellen, dass es einzelne Textstellen wie auch fragwürdige Teil-Diskurse in diesem Werk gibt, mit denen man sich ausdrücklich nicht identifizieren kann und will. Die Ambivalenz einer geistigen Größe, die historischer Autor und aktuell wirksamer Impulsgeber ist, gilt es nüchtern festzustellen und kritisch das eine vom anderen zu unterscheiden.
[1] Geulen, a.a.O. – Geulen stellt weiter fest: „Wo immer man im ausgehenden 19. Jahrhundert auf rassentheoretische Überlegungen stößt, wird man diese Auffassung vom Rassenkampf als einem übergreifend gültigen Prinzip jeder Art von Gesellschaftsentwicklung formuliert finden“, a.a.O. S. 73f. – Bei Steiner spielt diese Auffassung indessen keine Rolle.
[2] Jana Husmann-Kastein: Schwarz-Weiß-Konstruktionen im Rassenbild Rudolf Steiners. Vortragsmanuskript zur Tagung Anthroposophie – kritische Reflexionen an der Humboldt-Universität Berlin, 21.7.2006.
[3] Helmut Zander: Anthroposophische Rassentheorie. In: S. v. Schnurbein und J.H. Ulbricht (Hg.): Völkische Religion und Krisen der Moderne. Würzburg 2001, Seite 325
[4] Sonnenberg, a.a.O., S. 205
[5] Rudolf Steiner: Die spirituellen Hintergründe der äußeren Welt. Der Sturz der Geister der Finsternis 14 Vorträge, Dornach 1917. GA 177. Rudolf Steiner Verlag, 5. Auflage, Dornach 1999, Seite 220.
[6] Rudolf Steiner: Die Mission einzelner Volksseelen in Zusammenhang mit der germanisch-nordischen Mythologie. Elf Vorträge, 7. bis 17. Juli 1910 in Kristiania (Oslo). GA 121. Rudolf Steiner Verlag, 5. Auflage, Dornach 1982 (1974), Seite 76
[7] Lorenzo Ravagli: Unter Hammer und Hakenkreuz. Der völkisch-nationalsozialistische Kampf gegen die Anthroposophie, Stuttgart 2004
[8] Dazu sehr erhellend die Studie von Marcelo da Veiga: Sprachliche und historische Kriterien zum Rassismusvorwurf. in: „Anthroposophie“, Ausgabe Weihnachten 2007