In die erste Kategorie fällt der heute extrem irritierende Begriff der
Wurzelrasse,
den Steiner bis ca. 1905 in Anknüpfung an die angelsächsische Theosophie für seine eigenen kulturphilosophischen Darlegungen verwendet hat. Die Grundwerke der Theosophie sprachen bei der Entwicklung der Menschheit („human race“) von den verschiedenen Zeiträumen oder Epochen der Geschichte der Menschheit als von „root races“ oder „sub-races“, was in der deutschsprachigen Theosophie naiv als „Wurzelrasse“ oder „Unterrasse“ (im Sinne eines Teilbereichs der umfassenden Menschheit) übersetzt wurde. Diese irreführende Bezeichnung für Kulturepochen hat zunächst nichts mit der ethnischen Abstammung verschiedener Volksgruppen zu tun. Entgegen dem ersten Anschein haben diese Äußerungen daher keinen rassistischen Hintergrund.
Allerdings wirken Steiners diesbezügliche Aussagen heute außerordentlich befremdlich und sind für den nicht mit der theosophischen Literatur vertrauten Leser missverständlich. Ein Beispiel dazu aus einem Brief:
Jede der Unterrassen unserer fünften Wurzelrasse hatte bisher einen semitischen Einschlag. Der letzte kam, wie Du weißt, über Spanien nach Mitteleuropa. Aber solche Einschläge erschöpfen sich, und, wenn ein Zyklus abgelaufen ist, so muss ein neuer Einschlag kommen.[1]
Diesem Zitat aus einem Brief vom 28. April 1905 an Marie von Sivers ist eine Zeichnung beigefügt, in der nacheinander fünf sogenannte „Unterrassen“ abzweigen: die alte indische Kultur, die Abzweigung der „Zarathustrakultur“, die Abzweigung der semitisch- babylonisch-assyrischen Kultur, die römisch-griechische Welt und die
Befruchtung der germanischen Kultur durch Semitismus und Christentum.
Die Begriffe „Wurzel“- oder „Unterrasse“ sind in diesem Zusammenhang verwirrend sowie sachlich unangemessen und wurden von Steiner selbst seit etwa 1905 auch nicht mehr benutzt. Er hat sich von dieser Zeit an explizit von dieser theosophischen Begriffsverwendung distanziert:
Es wird von mir absichtlich der Begriff „Unterrassen“ vermieden, weil eigentlich der Begriff „Rasse“ sich nicht völlig deckt mit dem, um was es sich dabei handelt. Es handelt sich um Kulturentwicklungsperioden [...].[2]
Die Kritik, die sich an diesen Textstellen festmacht, ist somit von Steiner selbst bereits erkannt und berücksichtigt worden. Steiner war allerdings diesbezüglich in der Folge nicht immer konsequent, wodurch der Begriff „Rasse“ auch in späteren Vortragsnachschriften noch vereinzelt synonym für Völker oder gar für Kulturzeiträume auftaucht.
[1] Rudolf Steiner, Marie Steiner-von Sivers: Briefwechsel und Dokumente 1901-1925. GA 262, Rudolf Steiner Verlag, 2. Auflage, Dornach 2002 (1967), S. 105. Die Kommission Anthroposophie und die Frage der Rassen hat Passagen aus dem Brief, aus dem dieses Zitat stammt, in die Kategorie II (missverständliche Formulierung oder minder schwerer Fall von Rassendiskriminierung) eingeordnet.[Zitat 241]
[2] Rudolf Steiner: Das Johannes-Evangelium. GA 103. Rudolf Steiner Verlag, 11. Auflage, Dornach 1995 (1955). Vortrag vom 30. Mai 1908 in Hamburg, Seite 168. [Zitat 18 (13)]