Steiner hat sich, um seinen eigenen Ansatz einer spirituell-humanistischen Evolutionslehre zu verdeutlichen, nicht nur auf die aus altindisch-vedischen Quellen schöpfende Theosophie, sondern auch auf die naturwissenschaftliche Abstammungslehre bezogen, wie sie zu seiner Zeit insbesondere durch den deutschen Naturforscher Ernst Haeckel vertreten wurde. Dabei unterstützte Steiner im Wesentlichen Haeckels Eintreten gegen eine religiöse Erklärung der Entstehung der Welt und des Menschen. Wer heute jedoch z.B. Haeckels Darstellungen über die Abstammung des Menschen liest, ist befremdet darüber, wie ein führender Wissenschaftler seiner Zeit mit einem derart naturwissenschaftlich kalten und quasi zoologischen Blick auf die damals in den Horizont der europäischen Forschung geratenden traditionellen Völker schaut. Haeckels Entwicklungsbiologie trägt, sofern sie auf die Genese des Menschen Bezug nimmt, klar rassistische Züge. So sprach Haeckel manchen Volksstämmen sogar den Status der Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung ab, rückte sie in die Nähe von Primaten und kritisierte, dass „die meisten Anthropologen dogmatisch an der sogenannten Arteinheit aller Menschenrassen“ festhielten.[1]
Solche Positionen finden sich bei Steiner nicht, der bei aller Begeisterung für Haeckel doch erhebliche Vorbehalte gegenüber dessen rein materialistischen Ansatz hegte und sich z.B. vehement gegen die evolutive Nähe von Affen und Menschen verwahrte. Dennoch teilte Steiner manche rassistischen Vorannahmen der Wissenschaft seiner Zeit, wonach etwa einige Ethnien grundsätzlich als kulturell unterlegen galten. In Folge dessen treten auch bei ihm abschätzige Beurteilungen indigener Völker auf wie zum Beispiel:
Wir haben in der amerikanischen Rasse eine primitive Urbevölkerung vor uns, die weit, weit zurückgeblieben ist.[2]
Andererseits gibt es bei Steiner auch tiefe Würdigungen der Spiritualität z.B. der amerikanischen Ureinwohner, die bei Haeckel und anderen damaligen Forschern gänzlich fehlen.
Steiner rückte dann etwa ab 1910 von der Darstellung einer vertikalen Abfolge von Rassen ab, wie er dies z.B. noch 1907 in Anlehnung an Haeckel vertreten hatte, und verfolgte nun ein mehr „horizontales“ und universalistisches Konzept, wonach die unterschiedlichen Ethnien sich nicht (wie später die Kulturepochen) nacheinander, sondern weitgehend zeitgleich und parallel aus einer vorangehenden Ur-Menschheit herauskristallisiert haben.[3] Dabei liegt nun sein Focus mehr auf den jeweils eigenen Entwicklungsbeiträgen – wobei Steiner allerdings z.B. Menschen mit schwarzer Hautfarbe klischeehaft die Rolle des „Kindheitszeitalters“ der Menschheit zuordnet. Auch spricht Steiner hier für den weiteren Verlauf der menschheitlichen Entwicklung z.B. im Blick auf die amerikanischen Ureinwohner, wie bereits erwähnt, vom Phänomen „dekadenter Rassen“, die an der weiteren Kulturentwicklung nicht teilnehmen. Der Begriff „Dekadenz“ im Blick auf Menschengruppen stellt zweifellos eine Diskriminierung dar.
Weil Hochkulturen in einer bestimmten, aber begrenzten Zeitspanne und in einer ebenfalls begrenzten geographischen Region zur Entwicklung kommen, sind sie in der Regel auch mit bestimmten Völkern verbunden und wurden zumindest in früheren Kulturphasen der Menschheit somit in einer meist homogenen ethnischen Bevölkerungsgruppe verortet. So spricht man in der Regel etwa von der Griechischen Kultur und meint damit gleichzeitig die Bevölkerungsgruppe, die diese Kultur primär entwickelte. Daran nimmt niemand Anstoß, zumindest so lange nicht, wie nicht etwa davon die Rede ist, dass die gemeinte Kultur „untergeht“, „stehen bleibt“ oder „dekadent wird“. Dann nämlich würde die Identifikation einer ethnischen Bevölkerungsgruppe mit der von ihr entwickelten oder getragenen Kultur fast zwangsläufig auch die „Dekadenz“ der betreffenden Menschengruppe meinen. Die fehlende Differenzierung zwischen einer untergehenden Kultur und der sie tragenden Menschengruppe führt bei der Verwendung des Begriffes „Volk“ zur Diskriminierung, wie etwa folgende Äußerung Steiners zeigt:
Aber die Europäer sind hinaufgestiegen zu einer höheren Kulturstufe, während die Indianer stehengeblieben sind und dadurch in Dekadenz gekommen sind.[4]
[1] Ernst Haeckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Gemeinverständliche Werke II. Leipzig, Berlin 1924, S. 397
[2] Rudolf Steiner: Das Johannes Evangelium aus dem Band Menschheitsentwicklung und Christus-Erkenntnis. GA 100. Rudolf Steiner Verlag, 3. Auflage, Dornach 2006 (1967), Vortrag vom 22. November 1907 in Basel, Seite 259.
[3] K-P. Endres und Wolfgang Schad: Die Vielfalt des Menschen. Die verschiedenen Annäherungen Rudolf Steiners an das Problem der menschlichen Rassen. Mitteilungen aus der anthroposophischen Arbeit in Deutschland, Sonderheft 1995.
[4] Rudolf Steiner: Menschheitsentwicklung und Christus-Erkenntnis. GA 100, Rudolf Steiner Verlag, 2. Auflage, Dornach 2006 (1997), daraus Vortrag vom 22. November 1907 in Basel aus dem Zyklus Das Johannes-Evangelium. Seite 259. Die Kommission Anthroposophie und die Frage der Rassen hat dieses Zitat in die Kategorie I (Zitate mit diskriminierender Wirkung) eingeordnet. [Zitat 152 (133)]