Den Hauptanteil jener Textstellen, die von Kritikern als Beleg für den Rassismus bei Steiner vorgezeigt werden, bilden einige Äußerungen Steiners, in denen er sich – anders als im Hauptduktus seiner Ethik der Freiheit des Individuums – deutlich als Angehöriger einer spätkolonial und eurozentrisch geprägten Epoche mit ihren charakteristischen „Hierarchien des ‚Überlegenen‘ und ‚Minderwertigen‘“ (Christian Geulen)[1] zeigt. So sprach Steiner etwa mit Selbstverständlichkeit über die scheinbare
Ungerechtigkeit der Natur, dass sie den einen zu einem Dasein in einer tief untenstehenden Menschenrasse verurteilt und den anderen zu einer scheinbar vollkommenen Rasse heraushebt“ und hielt es für gegeben, dass „die kaukasische Rasse … die eigentliche Kulturrasse“ darstelle.[2]
Hier die wichtigsten Beispiele dieser Haltung, auf die auch Kritiker immer wieder hinweisen: [3]
[...] wir geben diese Negerromane den schwangeren Frauen zu lesen, da braucht gar nicht dafür gesorgt zu werden, dass Neger nach Europa kommen, damit Mulatten entstehen...[4]
Steiner verwendet hier den Begriff „Mulatten“ in abschätziger Art, so als ob Kinder aus ethnisch gemischten Beziehungen mit dunkler Hautfarbe in Europa unerwünscht wären. Oder:
Soll der vollkommene Geist ebensolche Voraussetzungen haben wie der unvollkommene? Soll Goethe die gleichen Bedingungen haben wie ein beliebiger Hottentotte?[5]
Steiner verwendet hier den Begriff „Hottentotte“ pauschal als negatives Beispiel.
Die Negerrasse gehört nicht zu Europa und es ist natürlich nur ein Unfug, dass sie jetzt in Europa eine so große Rolle spielt.[6]
Dieses Zitat beinhaltet für sich genommen eine Geringschätzung von Menschen mit schwarzer Hautfarbe.
Es gibt eine Biographie von Schubert, die schildert das Exterieur von Schubert so, wie wenn Schubert ungefähr wie ein Neger ausgesehen hätte. Es ist gar keine Rede davon gewesen! Er hat sogar ein sehr sympathisches Gesicht gehabt! Aber er war eben arm.[7]
Hier lässt sich Steiner wohl von einer persönlichen Gefühlsregung bestimmt dazu verleiten, Menschen mit schwarzer Hautfarbe indirekt als synonym für „nicht sympathisch“ zu sehen.
Die weiße Rasse ist die zukünftige, am Geiste schaffende Rasse.[8]
Die Menschen würden ja, wenn die Blauäugigen und Blondhaarigen aussterben, immer dümmer werden, wenn sie nicht zu einer Art Gescheitheit kommen würden, die unabhängig ist von der Blondheit. Die blonden Haare geben eigentlich die Gescheitheit.[9]
Der hier unterstellte Zusammenhang zwischen Haut- bzw. Haarfarbe und Intelligenz braucht in seiner Abwegigkeit nicht weiter kommentiert zu werden.
Auf diese Äußerungen trifft eine der maßgeblichen Rassismus-Definitionen zu, wonach Rassismus durch die „verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers entsteht, mit der seine Privilegien oder Aggressionen gerechtfertigt werden sollen“ (Albert Memmi) [10]. Belege für eine Rechtfertigung von rassistischen Aggressionen finden sich bei Steiner zwar nicht.[11] Dennoch ist es sehr bedauerlich, dass solche im weiteren Sinne[12] rassistischen Äußerungen von Steiner gemacht wurden. Auch der zuweilen unternommene Versuch, diese Zitate kontextuell einzuordnen, macht sie nicht annehmbarer. Das dritte Zitat ist z.B. auch dann nicht hinnehmbar, wenn man annimmt, Steiner habe mit dem abschätzig klingenden Wort „Negerrasse“ die schwarz-afrikanische Kultur gemeint. Bei den Zitaten dieser Kategorie handelt es sich auch nicht mehr um ein bloß sprachhistorisches Problem, dem mit einer „Übersetzung“ des Gemeinten in eine „zeitgemäße“ Sprache beizukommen wäre. So weit voraus ein Rudolf Steiner seiner Zeit in vielen pädagogischen, medizinischen und auch sozialen Fragen war – die oben genannten Äußerungen sind Dokumente einer überholten Denkweise und einer überholten Zeit, die heute in keiner Weise mehr vertretbar oder „übersetzbar“ sind.
Das mitunter bemühte Argument, jene Zitate seien in einer anderen Zeit geäußert worden, gilt auch dann nicht, wenn es sich um Auffassungen handelt, die zwar vor etwa 100 Jahren in unserem Kulturkreis verbreitet, aber deshalb nicht weniger diskriminierend waren. Grobe absichtliche oder fahrlässige Diskriminierungen waren bereits verletzend, bevor das Diskriminierungsverbot etwa durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948 kodifiziert wurde.
[1] Christian Geulen: Geschichte des Rassismus. München 2007, S. 10
[2] Rudolf Steiner: Weltenrätsel und Anthroposophie. 22 Vorträge, Berlin, 5. Oktober 1905 bis 3. Mai 1906. GA 54. Rudolf Steiner Verlag, 2. Auflage, Dornach 1983. Seite 133 bzw. Seite 144
[3] Die niederländische Kommission identifizierte 16 ernsthaft diskriminierende oder rassistische Äußerungen; die Verfasser dieses Memorandums neigen dazu, einige weitere Zitate zu der schwerwiegenderen Kategorie I. zu zählen.
[4] Rudolf Steiner: Über Gesundheit und Krankheit. Grundlagen einer geisteswissenschaftlichen Sinneslehre. Vorträge für die Arbeiter am Goetheanumbau, Band II. GA 348. Rudolf Steiner Verlag, 4. Auflage, Dornach 1997 (1983). Daraus Vortrag vom 30. Dezember 1922 vor Arbeitern am Goetheanumbau, Seite 188/189 Die Kommission Anthroposophie und die Frage der Rassen hat dieses Zitat in die Kategorie I (Zitate mit diskriminierender Wirkung) eingeordnet. [Zitat 119 (137)]
[5] Rudolf Steiner: Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums. GA 8, Rudolf Steiner Verlag, 9. Auflage, Dornach 1989 (1902), Seite 47 Die Kommission Anthroposophie und die Frage der Rassen hat diese Zitate in die Kategorie I (Zitate mit diskriminierender Wirkung) eingeordnet. [Zitat 123 (105)]
[6] Rudolf Steiner: Vom Leben des Menschen und der Erde. Über das Wesen des Christentums. Vorträge für Arbeiter am Goetheanumbau, Band III. GA 349. Rudolf Steiner Verlag, 3. Auflage, Dornach 2006 (1961). Daraus: Vortrag vom 3. März 1923, Seite 53. Die Kommission Anthroposophie und die Frage der Rassen hat dieses Zitat die Kategorie II (missverständliche Formulierung oder minder schwerer Fall von Rassendiskriminierung) eingeordnet. [Zitat 127 (106)]
[7] Rudolf Steiner: Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge, Band I, Rudolf Steiner Verlag, GA 235, 8. Auflage, Dornach 1994 (1933). Daraus Vortrag vom 8. März 1924, Seite 123 Die Kommission Anthroposophie und die Frage der Rassen hat dieses Zitat in die Kategorie I (Zitate mit diskriminierender Wirkung) eingeordnet. [Zitat 150]. Die genannte Biographie stammt von Ritter von Kreissle-Hellborn, Joseph von Spaun, einige Bemerkungen über die Biographie Schuberts.
[8] Rudolf Steiner: Vom Leben des Menschen und der Erde. Über das Wesen des Christentums. Vorträge für die Arbeiter am Goetheanumbau Band III, Dornach 1923. GA 349, Rudolf Steiner Verlag, 3. Auflage Dornach 200 (1961) Seite 67. Die Kommission Anthroposophie und die Frage der Rassen hat diese Zitate in die Kategorie I (Zitate mit diskriminierender Wirkung) eingeordnet. [Zitat 132 (114)]
[9] Rudolf Steiner: Über Gesundheit und Krankheit. Grundlagen einer geisteswissenschaftliche Sinnenlehre. Vorträge für die Arbeiter am Goetheanumbau Band II. Dornach 1922/1923. GA 348, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1997 (1983) Seite 103. Die Kommission Anthroposophie und die Frage der Rassen hat dieses Zitat die Kategorie II (missverständliche Formulierung oder minder schwerer Fall von Rassendiskriminierung) eingeordnet. [Zitat 37 (31)]
[10] Diese Definition des französischen Wissenschaftlers fand u.a. Eingang in die Encyclopaedia Universalis. Siehe auch Albert Memmi, Rassismus, Frankfurt am Main 1987).
[11] Es gibt eine Aussage Steiners über das angeblich „gesetzmäßige“, konstitutionell begründete Aussterben der „indianischen Bevölkerung“ in den Vorträgen über Die Mission einzelner Volksseelen, GA 121, S. 79. Auch diese Behauptung ist höchst fragwürdig, wobei sich Steiner hier wohl eher auf den Tod durch eingeschleppte Krankheiten bezieht. Die gewaltsame Ausrottung der Indianer durch die Europäer hat Steiner klar verurteilt. Siehe dazu ausführlicher van Baarda (Hrsg.), Anthroposophie und die Rassismus-Vorwürfe, S. 295ff.
[12] A. Memmi folgend lässt sich ein Rassismus im engeren und im weiteren Sinne differenzieren.