In der Tat gibt es bei Steiner – sehr verstreut in seinem Werk – hässliche, abwertende Aussagen etwa über Afrikaner oder über die Ureinwohner Amerikas. Manche seiner Kritiker sehen die Gefahr solcher Wertungen schon in seinem Entwicklungsdenken angelegt. Tatsächlich ging Steiner davon aus, dass es im Entwicklungsgang der Menschheit eine Art Richtung gibt, dass einzelne Kulturen dabei zu gewissen Zeiten pionierhaft waren (etwa die indische, jüdische oder griechische), dass einzelne Kulturen dabei...
Nein. Seine elterliche Familie war katholisch, wenngleich er zumindest den Vater eher als Freigeist schildert, der kaum je zur Kirche ging. Immerhin war der junge Rudi eine Zeitlang Messdiener in der Dorfkirche. Als ihn dies aber der Gefahr aussetzte, gelegentlich vom Pfarrer Prügel zu beziehen, griff der Vater sofort ein und schob der „Kirchendienerei“ einen Riegel vor: „Du gehst mir nimmer hin.“ Diese klaren Tatsachen hinderten Steiners Gegner nicht daran, später anderes zu behaupten, um ihm zu schaden...
Um dies zu behaupten, muss man die Dinge schon sehr verdrehen. Bereits mit zwanzig reagiert er spontan empört auf die antisemitischen Töne in einem Buch des Philosophen Eugen Dühring. Zwei Jahrzehnte später engagiert er sich im „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“. Er kritisiert die „abgestandenen Plattheiten“ der Antisemiten und registriert „mit Schaudern“ ihren kulturellen Einfluss. Allenfalls kann man sagen, dass Steiner in seinen frühen Jahren den Antisemitismus eher als hässliche Zeiterscheinung sah...
Hier äußerte sich Steiner widersprüchlich. Ja, Steiner hat sich ab seinem 35. Lebensjahr immer mehr für die wahrnehmbare Wirklichkeit interessiert, also auch für Farben. Davor waren ihm – so schildert er es in seiner Autobiographie – philosophische Überlegungen näher. Als Goethe-Kenner interessierte er sich generell für die „seelisch-sittliche Wirkung“ der Farben. Eine Idee, mit der viele Maler gearbeitet haben und über die in der Kunstgeschichte viel nachgedacht wurde. Außerdem war Steiner der Überzeugung, dass die Farben in der Pflanzen- und Tierwelt, aber eben auch am menschlichen Körper Hinweise für „seelisch-sittliche“ Qualitäten sind, die zum jeweiligen Lebewesen dazu gehören...
Das tiefe Interesse am jeweiligen Individuum, das die Anthroposophie charakterisiert, zeigt sich auch und gerade dort, wo es um Menschen mit bestimmten Einschränkungen oder Behinderungen geht. So forderte Rudolf Steiner auch – damals ganz ungewöhnlich – einen Namen zu finden, der diese Menschen „nicht gleich abstempelt“. Seine Mitarbeiter sprachen daher von Anfang an von „Seelenpflege-bedürftigen“ Kindern bzw. Erwachsenen und lenkten den Blick weg vom Defizit zum Bedarf. Bezeichnenderweise erkannte Steiner auch viel früher als andere die Gefahren durch die Eugenik...
Ja, Rechtsextreme nutzen zum Teil dieselben Wörter wie Steiner und versuchen mit dieser Übernahme zu punkten. Zum Beispiel der Begriff „Dritter Weg“ – heute der Name einer rechtsextremen Kleinpartei. Er stand Ende der 80er Jahre für eine progressive Perspektive im Systemwettstreit zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Anthroposophen waren damals an der Entwicklung dieser progressiven Idee beteiligt, in der Kleinstpartei spielen sie keine Rolle...
Das ist eine komplexe Geschichte. Rudolf Steiner war schon vor Beginn der NS-Zeit gestorben, Leiter der deutschen Anthroposophen war zu dieser Zeit Hans Büchenbacher. Er war nach Nazi-Kategorien „Halbjude“ und gab sein Amt auf, um die Anthroposophie aus der ideologischen Schusslinie zu nehmen. Aber es half nichts, 1935 wurde die Anthroposophische Gesellschaft verboten. Bemerkenswerte Episode: Mehrfach schickten die Nazis Gutachter los, um zu sondieren, ob es nicht doch ideologische Brücken zwischen ihrer Weltanschauung und der Anthroposophie geben könne...
Dieses Urteil ist ein „Scheinriese“ – je mehr man sich einer anthroposophischen Denkweise nähert, umso mehr verliert es an Bedeutung. Wie eine holländische Untersuchungskommission schon in den 90er Jahren feststellte, gibt es in Steiners 89.000-seitigen Schriftwerk ca. 26 Passagen, die im heutigen Sprachgebrauch als diskriminierend oder rassistisch zu werten sind. An diesen wenigen Stellen arbeiten sich die meisten Kritiker ab. Auch dass Steiner wie viele seiner Zeitgenossen über „Rassen“ nachdachte – heute würde man eher von Ethnien sprechen...
Eine zentrale. Rudolf Steiner sah sogar eines seiner wichtigsten Anliegen darin, unserer Epoche einen Zugang zu diesem Thema zu öffnen. Zugleich ist es wohl der Aspekt, an dem seine Weltsicht am deutlichsten von der abendländischen Tradition abweicht. Zwar erwog schon Lessing, jeder Mensch könne „mehr als einmal“ gelebt haben, auch bei Goethe gibt es Anklänge in diese Richtung; dennoch ist die Idee der Reinkarnation den abrahamitischen Religionen (Judentum, Christentum, Islam) fremder als etwa der indischen Tradition. Was indes nichts über ihre Richtigkeit aussagt. Auch von Amerika, so Steiner trocken, stehe nichts in der Bibel...
Nicht viel. Da werden in der Regel zwei Dinge verwechselt. Das eine: Ja, Steiner war überzeugt, dass die mitteleuropäische und gerade auch die deutsche Kultur eine Art Aufgabe in der Welt habe. Mit ihrem Zug ins Geistige, wie er etwa in großen philosophischen Vorstößen zum Ausdruck kam, mit ihrem ausgeprägten Interesse an Fragen innerer Entwicklung, gelegentlich auch ihrer Weltfremdheit, hätte sie der notwendige Gegenpol zu den pragmatisch-nüchternen Talenten insbesondere der angelsächsischen Welt sein können. …
In die üblichen Kategorien war er kaum einzuordnen. Zeitweise nannte er sich einen „individualistischen Anarchisten“. Über Jahre unterrichtete Steiner auch an der von Wilhelm Liebknecht gegründeten, stramm sozialistischen Arbeiterbildungsschule in Berlin. Aber von den traditionellen sozialistischen Konzepten unterschied ihn doch viel. Vor allem hielt er deren Fixierung auf zentrale staatliche Lösungen für grundfalsch. Unserem Zeitalter mit dem in allen Menschen lebenden Verlangen nach Individualität und Freiheit sei das nicht mehr angemessen...
Hier zeigt sich exemplarisch, was historische Komplexität ist. Steiners gesellschaftspolitische Ideen – kurz die „Soziale Dreigliederung“ – wurden manchmal sehr prominent öffentlich diskutiert und manchmal blieben sie verborgen im „Untergrund“. Seine Ideen verstand Steiner als einen Versuch, dem sich abzeichnenden Konflikt der Gesellschaftssysteme „Kapitalismus vs. Kommunismus“ eine integrierende Idee entgegenzustellen – die des freien und vernunftbegabten Menschen. Seiner Ansicht nach scheiterte er aber damit...
Darüber kann man nur spekulieren. Tatsächlich ist auffällig, dass schon viele Anthroposophinnen und Anthroposophen der ersten Generation einen jüdischen Hintergrund hatten. So der Ingenieur Carl Unger, der mit Marie von Sivers und Michael Bauer den ersten Vorstand bildete, die Prager Intellektuelle Berta Fanta, in deren Salon auch Franz Kafka verkehrte, der Kabbala-Forscher Ernst Müller...
Immer wieder wird die Forderung gestellt: Anthroposophen sollen sich von ihrem „Guru“ Rudolf Steiner distanzieren und eine säkularisierte "Anthroposophie 2.0“ ohne Rückgriff auf ihn zu schaffen. Sicher gibt es aus heutiger Sicht gute Gründe, sich von einigen wenigen Äußerungen von Rudolf Steiner zu distanzieren. Und dies sollte eine Selbstverständlichkeit sein, Steiner selbst forderte ja mehrfach, man solle ihm nicht blind folgen...