Ein Sonderfall bezüglich des Diskriminierungsverdachts ist der Vortragszyklus Die Mission einzelner Volksseelen aus dem Jahr 1910. Steiner wollte hier ein mehrschichtiges Bild der Entstehung von Rassen, Völkern und Kulturen geben, wobei er neben äußerlichen klimatischen und geographischen Einflüssen, die für sich genommen leicht zum Determinismus führen könnten, eine Wechselwirkung mit Einflüssen der von ihm im Detail beschriebenen geistigen Wesenheiten darstellt.[1] Nach Steiners Beschreibung findet die (für ihn nur vorläufige und vorübergehende) Ausdifferenzierung der Gesamtmenschheit in verschiedene Rassen dadurch statt, dass unterschiedliche rein geistige Wesenheiten wie von außen auf die Menschen eingewirkt haben – und zwar jeweils konzentriert auf unterschiedliche Organsysteme: bei Mongolen auf den Blutkreislauf; bei Asiaten auf das Nervensystem; bei Schwarzafrikanern auf das Drüsensystem, etc. Steiner spricht hier bildlich von „kochen und brodeln“, weil bei diesem physikalischen Vorgang ebenfalls sichtbare Veränderungen durch nicht-sichtbare Kräfte von außen verursacht werden. Es „kocht und brodelt“ im übertragenen Sinne also in den verschiedenen Organsystemen der Menschen. Und dann kommt es in diesem Zusammenhang zu der extrem befremdlichen Äußerung:
Alles, was der Äthiopischen Rasse ihre besondere Merkmale verleiht, das kommt davon her, dass die Merkurkräfte in dem Drüsensystem der betreffenden Menschen kochen und brodeln.[2]
Dieser Satz wirkt, besonders wenn er aus dem Kontext herausgelöst oder verkürzt wird („beim Neger kocht und brodelt es im Drüsensystem“) beleidigend. „Kochen und Brodeln“ klingt nach triebhafter, unkontrollierter Hitze, nach Chaos, Erregung und Entfesselung, Zeichen von Ich-Schwäche, Animalität und „niederer Sinnlichkeit“.
Abgesehen von solchen Formulierungen führt heute allein schon der Begriff „Neger“, den Steiner wie andere zeitgenössische Autoren sorglos verwendet, zu verständlichen Irritationen.
Ein Beispiel dafür ist der zu Recht oft beanstandete Satz
Denn selbst die Neger müssen wir als Menschen ansehen.[3]
Im Zusammenhang der Ausführungen Steiners an dieser Stelle ist klar, dass etwas anderes gemeint war; nämlich: „Denn auch Schwarze sind Menschen!“ – eine Bemerkung, die 1922 noch keineswegs selbstverständlich war. Ob hier das Stenogramm ungenau ist oder ob es sich um einen Versprecher des Vortragenden gehandelt hat, mag dahingestellt bleiben. Der veröffentlichte Satz ist jedenfalls hochgradig diskriminierend, während es dem Vortragenden wohl gerade um das Gegenteil ging: die Einbeziehung der schwarzen Bevölkerung als gleichberechtigte Bürger der damaligen Kolonien.
Insbesondere bei einem Vortrag über Unterschiede in der Menschheit, die Steiner für die Bauarbeiter am damaligen Goetheanumbau gehalten hat, kam es zu peinlichen Stereotypisierungen. Hier ein längeres Beispiel dazu:
Und während der Mongole das Mittelhirn hauptsächlich braucht, müssen wir Europäer das Vorderhirn anwenden. Dadurch aber stellt sich das Folgende heraus: Der mit dem Hinterhirn, der hat vorzugsweise das Triebleben, das Instinktleben. Der da hier mit dem Mittelhirn hat das Gefühlsleben, das in der Brust sitzt. Und wir Europäer, wir armen Europäer haben das Denkleben, das im Kopfe sitzt. Dadurch fühlen wir gewissermaßen unseren inneren Menschen gar nicht. Denn den Kopf, den fühlen wir nur, wenn er uns weh tut, wenn er krank ist. Sonst fühlen wir ihn nicht. Dadurch aber nehmen wir die ganze Außenwelt auf, werden dadurch leicht Materialisten. Der Neger wird schon kein Materialist. Der bleibt schon innerlich Mensch. Nur entwickelt er innerlich das Triebleben. Der Asiate wird auch nicht Materialist. Der bleibt beim Gefühlsleben. Der kümmert sich nicht so ums äußere Leben wie der Europäer. Von dem sagt er: Der wird nur ein Ingenieur, der sich nur mit dem äußeren Leben beschäftigt.[4]
Die stereotype Zuordnung nach rassischen Klischees ist augenfällig.
Auch an einer anderen Stelle (ebenfalls aus einem Arbeitervortrag) überschreiten solche Typisierungen die Grenze des Zumutbaren:
Daher ist beim Neger namentlich alles das, was mit dem Körper und mit dem Stoffwechsel zusammenhängt, lebhaft ausgebildet. Er hat, wie man sagt, ein starkes Triebleben, Instinktleben. Der Neger hat also ein starkes Triebleben. Und weil er eigentlich das Sonnige, Licht und Wärme, da an der Körperoberfläche in seiner Haut hat, geht sein ganzer Stoffwechsel so vor sich, wie wenn in seinem Innern von der Sonne selber gekocht würde. Daher kommt sein Triebleben. Im Neger wird da drinnen fortwährend richtig gekocht [...][5]
(Die Kommission Anthroposophie und die Frage der Rassen hat dieses Zitat in die Kategorie I (Zitate mit diskriminierender Wirkung) eingeordnet. [Zitat 152 (133)])
[1] Auf das an Ideen Herders und Hegels anknüpfende Konzept Steiners, den kulturellen Ausdruck von gesellschaftlichen Systemen durch die Beteiligung rein geistiger Entitäten („Volksgeister“) zu erklären, kann hier nicht näher eingegangen werden.
[2] Rudolf Steiner: Die Mission einzelner Volksseelen in Zusammenhang mit der germanisch-nordischen Mythologie. Elf Vorträge, 7. bis 17. Juli 1910 in Kristiania (Oslo). GA 121. Rudolf Steiner Verlag, 5. Auflage, Dornach 1982 (1974), Seite 111/112. Die Kommission Anthroposophie und die Frage der Rassen hat dieses sowie acht weitere Zitate aus diesem Vortragszyklus in die Kategorie II (missverständliche Formulierung oder minder schwerer Fall von Rassendiskriminierung) eingeordnet. [Zitat 111 (93)]
[3] Rudolf Steiner: Die geistig-seelischen Grundkräfte der Erziehungskunst. Spirituelle Werte in Erziehung und sozialem Leben. GA 305, Rudolf Steiner Verlag, 3. Auflage, Dornach 1991. Daraus Vortrag vom 21. August 1922 in Oxford, Seite 100. Siehe auch Th. A. van Baarda (Hg.) Anthroposophie und die Rassismus-Vorwürfe, Info3-Verlag, Frankfurt am Main 2006 (1998), Seite 262. Die Kommission Anthroposophie und die Frage der Rassen hat dieses Zitat in die Kategorie I (Zitate mit diskriminierender Wirkung) eingeordnet. [Zitat 130 (112)]
[4] Rudolf Steiner: Vom Leben des Menschen und der Erde. Über das Wesen des Christentums. Vorträge für Arbeiter am Goetheanumbau, Band III, GA 349. Rudolf Steiner Verlag, 3. Auflage, Dornach 2006 (1961). Daraus: Vortrag vom 3. März 1923, Seite 58. Die Kommission Anthroposophie und die Frage der Rassen hat dieses Zitat in die Kategorie II (missverständliche Formulierung oder minder schwerer Fall von Rassendiskriminierung) eingeordnet.] [Zitat 127 (106)]
[5] Rudolf Steiner: Vom Leben des Menschen und der Erde. Über das Wesen des Christentums. Vorträge für Arbeiter am Goetheanumbau, Band III. GA 349. Rudolf Steiner Verlag, 3. Auflage, Dornach 2006 (1961). Daraus: Vortrag vom 3. März 1923, Seite 55. Die Kommission Anthroposophie und die Frage der Rassen hat dieses Zitat die Kategorie II (missverständliche Formulierung oder minder schwerer Fall von Rassendiskriminierung) eingeordnet. [Zitat 127 (106)]