Anthroposophische Gesellschaft im 21. Jahrhundert
Michael Schmock im Interview zum Abschluss seiner Tätigkeit als Generalsekretär.
Sebastian Knust: Michael, Du warst jetzt 8 Jahre als Generalsekretär für die AGiD tätig, davor auch schon 7 Jahre, also insgesamt 15 Jahre als Vorstand. Wie hat für Dich diese Tätigkeit begonnen? Was hat sich in dieser Zeit ergeben? Wie schaust Du heute auf die Zukunft der Anthroposophischen Gesellschaft?
Michael Schmock: Die Anthroposophische Gesellschaft hat mich mein ganzes Leben begleitet. Erst im anthroposophischen „Zweig“ in Wuppertal (seit 1986), dann als Verantwortlicher des regionalen Arbeitszentrums NRW (seit 1991), als Vorstand der Landesgesellschaft (seit 2008) und als Generalsekretär der AGiD (seit 2015).
Ich habe einige mir wichtige Impulse in meine Tätigkeit eingebracht. Da wäre zunächst die anthroposophische Jugendarbeit. Ich habe über 20 Jahre ein Jugendseminar aufgebaut und betrieben. Unter Jörgen Smit war ich im Kollegium der Jugendsektion. Daher hat für mich die Bedeutung einer anthroposophischen Jugendarbeit einen entscheidenden Stellenwert, auch im Nachwuchs einer zukünftigen Generation.
Ein zweiter Impuls war die Zusammenarbeit mit den Menschen aus den anthroposophischen Praxisfeldern. Hier sind unzählige Tagungen, Kolloquien und Seminarangebote entstanden. Ich sah es als innere Konsequenz an, dass die gesamte anthroposophische Bewegung zusammenarbeitet und sich gegenseitig trägt – auch nach außen.
Als Ergänzung dazu war für mich der innere, spirituelle Kern der gesamten Bewegung die esoterische Vertiefung der Arbeit in der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Hier sind Hochschulkolloquien, Hochschulgespräche und eine enge Verbindung zum Goetheanum in Dornach gewachsen.
Zusammenfassend hatte und habe ich den Eindruck, dass eine Anthroposophische Gesellschaft im 21. Jahrhundert andere Qualitäten braucht als im 20. Jahrhundert. Mein erster, deutlicher Gestaltungsschritt im Rahmen der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland war 2017 der Versuch, einen Zukunftsprozess einzuleiten. Welche Aufgabe hat die Anthroposophische Gesellschaft (AG) heute nach fast 100 Jahren? Was können für uns konkrete Schritte in eine zukunftsfähige Richtung sein? Wir haben viele Konferenzen, Kolloquien, Interviews, Auswertungen und entsprechende Veröffentlichungen dazu erstellt. Als konkrete Perspektiven ergaben sich: Es braucht eine übende und lernende Gesellschaft, offene Räume für Jugendaktivitäten, eine erweiterte Hochschularbeit, Impulse für die Zweig- und Gruppenarbeit, schlanke, durchsichtige Strukturen, eine öffentlich aktive Gesellschaft und das Zusammenwirken der AG mit den Praxisfeldern.
Was den Erfolg des Projekts betrifft, so waren meine Erfahrungen sehr durchwachsen. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass der Prozess nur zu geringfügigen praktischen Konsequenzen geführt hat. Kleine Schritte waren folgende: In zwei Arbeitszentren wurden jüngere Menschen ins Kollegium integriert oder als Assistenten einbezogen und es entstanden eine aktivere Forschungsförderung für jüngere Menschen sowie eine Gruppe „Junge Hochschule“. Größere Projekte waren: die Etablierung einer Konferenz (Allianz) der AGiD mit allen anthroposophischen Verbänden und Organisationen sowie die daraus entstehende gemeinsame Entwicklung der Kongressinitiative „Soziale Zukunft“ (2017) mit ganz neuen Formaten, künstlerischen Interventionen und Menschen aus der Zivilgesellschaft. Aufgrund der Coronazeit war der geplante zweite Kongress mit ca. 100 zivilgesellschaftlichen Organisationen 2020/21 nicht mehr realisierbar. Das war für mich persönlich eine bittere Erfahrung, zumal hier ein deutlicher Innovationsversuch auf halber Strecke vorerst aufgegeben werden musste.
SK: Haben die starken gesamtgesellschaftlichen Veränderungen wie die Coronapandemie, der Ukraine-Krieg, die Inflation, die Energiekostenexplosion und viele weitere Krisen nicht auch die Menschen in der AG verändert? Erschweren diese Vorgänge einen konstruktiven Entwicklungsprozess?
MS: Wir leben in einer disruptiven Zeit, die viele Konsequenzen nach sich zieht. Durch die COVID-Maßnahmen, die Einschränkungen der Freiheitsrechte und die Verengung medialer Narrative haben sich in den letzten Jahren gesellschaftlich gesehen manche Positionen verhärtet. Es entstanden Lager und Lager- und Meinungskämpfe, Konflikte in der öffentlichen Meinungsbildung von Politik und Medien, in Institutionen und in privaten Haushalten. So führte beispielsweise der Krieg in der Ukraine in eine paradigmatische „Zeitenwende“, die im Kern ein neues Motto beinhaltet: „Frieden schaffen mit Waffen“. Auch das war neu und hat aus meiner Sicht eine 40 Jahre lang in Deutschland vorherrschende Moral und Ethik auf den Kopf gestellt.
Hinzu kam die Verunsicherung, befeuert durch eine „Krise des Wissens“. Was ist noch gültig, was kann ich noch glauben? Am Beispiel der Nordstream-Sabotage und der geheimen Aufarbeitung lässt sich deutlich zeigen, wie im Kontext von Informationskriegen die Grenzen zwischen Fakten und Meinungen verschwimmen. Die Ergebnisse sind: ein konfrontatives soziales Miteinander vom öffentlichen Leben bis ins Privatleben hinein, der Verlust der Glaubwürdigkeit politischer Akteure, die wachsende Skepsis gegen alles, was angeblich nicht wissenschaftlich ist, eine Verunglimpfung aller Formen von Esoterik oder Spiritualität, ein massiver Streit um Klimaschutzfragen bis hin zum angeblich klimafreundlichen Weiterbetrieb der Atomkraftwerke, eine Verarmung großer Bevölkerungsanteile in Deutschland, eine Skepsis gegenüber der sich selbst organisierenden Zivilgesellschaft und letztlich ein noch stärkerer Rückzug ins Private. Und nicht zuletzt eine Generalisierung von Protestaktionen bis hin zur Ausbreitung der angeblichen „Alternative für Deutschland“, AfD.
Das alles ist aber nur die eine Seite. Viele Menschen sind inzwischen wieder mit positiven Ansätzen und Initiativen unterwegs, die ich für zukunftsfähig halte. Die letzten fünf Jahre waren wie ein Einschub, eine Brems- und Verhinderungssituation für die Initiativen. Viele gesellschaftliche Sichtweisen, moralische Grundlagen, Ideen und Ideologien scheinen ihre Tragkraft zu verlieren, werden aber auf anderem Wege neu geboren.
SK: Wo siehst Du denn konkrete Perspektiven und neue Schritte? Welche Elemente der AG erlebst Du heute, unter diesen Voraussetzungen, als zukunftsfähig?
MS: Hier greife ich einige Beispiele von Vorgängen auf, die für mich Elemente einer zukunftsfähigen Gesellschaft beinhalten. Das sind nur Einzelheiten, die für mich aber im Kontext zeigen können, um welche Qualitäten es gehen könnte:
Die Eurythmie-Aufführung des Stuttgarter Else-Klink-Ensemble „Geh durch. Zu dir“: Das interdisziplinäre Bühnenprojekt über die Krankheits- und Nahtoderfahrungen eines Künstlers beinhaltete Musik, Tagebuch-Texte, Eurythmie und Projektionen von künstlerischen Zeichnungen. Es zeigte eine existenzielle, menschliche, spirituelle Realität, authentisch, konkret und multimedial performt. Mir scheint hier ein Durchbruch gelungen zu sein in Richtung einer zukunftsfähigen Eurythmie-Performance, die nicht nur Insider, sondern jeden Menschen in seiner Einzigartigkeit anspricht.
Die Gründung der Jugendsektion in Deutschland: 120 junge Menschen kamen im Juni dieses Jahres in Schloss Hamborn (NRW) zu einem inhaltlichen und ritualisierten sozialkünstlerischen Erfahrungsfest zusammen. Dabei wurden u. a. Wünsche, Zukunftshoffnungen und Anliegen individuell auf Papier geschrieben und anschließend dem Feuer übergeben. In einer Zeremonie, in der auch Steiners Grundsteinspruch gesprochen wurde, wurde die Asche auf einer Wegspirale ausgebracht und anschließend mit Blumensamen überstreut. Begleitet wurde das Fest durch viel Musik auf einer großen Wiese mit Zelten, kleinen Gesprächsgruppen und Festansprachen. Ein Beitrag zu einer weltweiten Anthroposophie-Bewegung.
Ein ganz anderes Szenario: Die Kolloquien zum „Konstitutionsproblem“ in Dornach und Stuttgart: Hier wurde erneut der Versuch einer Aussprache und Verständigung zu den Fragen rund um die Gründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft in Dornach (CH) unternommen. Bei aller Verhärtung in unterschiedlichen Positionen ist es zu einem disziplinierten Austausch und zu einer Verständigung über die „Faktenlage“ gekommen. Nichts wurde zurückgehalten, jede und jeder konnte die eigene Sicht der Dinge äußern, soweit sie mit entsprechenden Dokumenten belegbar war. Eine umfassende Dokumentation mit vielen ausführlichen Details entstand. Für mich haben Justus Wittich und Gerald Häfner vom Goetheanum-Vorstand damit einen Heilungsprozess (in ca. 15 Kolloquien) eingeleitet, der im Zeichen von „100 Jahre Anthroposophische Gesellschaft“ menschlich, sozial und faktisch einen Durchbruch in Sachen gegenseitiger Verständigung und Restrukturierung der Gesellschaft ermöglicht hat.
Noch ein Beispiel: Anthroposophie öffentlich erklären lernen! Nach den vielen Verunglimpfungen und dem Bashing auf medialer Ebene entstand die entscheidende Frage, wie man damit umgehen kann. Der ehemalige Journalist Wolfgang Müller machte deutlich, dass es nicht nur um Gegendarstellungen gehen kann, sondern darum, die Anthroposophie nachvollziehbar und Selbstüberheblichkeit jemandem ohne Vorkenntnisse einfach zu „erklären“, und ist mit seinem Buch „Zumutung Anthroposophie“ vorangegangen. Auf diesem Hintergrund hat die AGiD mehrere Entwicklungsschritte eingeleitet: zunächst einen Austausch mit den Öffentlichkeitsarbeiterinnen und -arbeitern aller Verbände in Deutschland in regelmäßigem Rhythmus. Ein gegenseitiger Verständigungs- und Lernprozess entstand. Die Landesgesellschaft hat die Aufklärungswebsite „anthroposophie-gegen-rassismus.de“ aufgebaut. Eine Homepage „Anthroposophie.de“ ist in Vorbereitung. Hier geht es darum, alle informativen, aber auch alle neuralgischen Punkte in wertfreiem Duktus für alle öffentlich zugänglich zu machen. Ein neuer Schritt im Selbstverständnis der Anthroposophie, der für das 21. Jahrhundert adäquat ist.
Ein letztes Beispiel zur Hochschule: Es geht auch hier um Entwicklungsschritte. Die AGiD hat die Gruppierungen von Menschen unterstützt, die lernend mit Steiners mantrischen Sprüchen für die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft umgehen wollen, und zu Hochschulkolloquien zum „Übenden Umgang mit den Mantren“ eingeladen. Sie haben mit Beteiligung von jeweils ca. 80 Personen dreimal in Hamburg stattgefunden. In diesem Jahr findet das Kolloquium in Stuttgart statt. Das Besondere ist hier, dass der übende Umgang mit den Inhalten in Gruppen möglich geworden ist. Damit entsteht ein qualitativer, neuer Schritt im 21. Jahrhundert. Waren vorher Meditationsinhalte eine Angelegenheit des einzelnen, privaten Menschen, entsteht hier ein übender und sich austauschender Vorgang in Gruppen, die ihre individuelle Arbeit dadurch als bereichert erleben. Das war noch vor 20 Jahren kaum möglich und wurde einst eher infrage gestellt. Hier wächst eine neue Kompetenz der Sprachfähigkeit heran.
SK: Wie ist Deine zusammenfassende Perspektive der AG im 21. Jahrhundert? Worum geht es?
MS: Es geht um eine öffentlichkeitsfähige Anthroposophische Gesellschaft. Damit meine ich, dass es notwendig ist, einen internen Diskurs mit den verschiedensten Gruppierungen zu führen, die sich mit Anthroposophie beschäftigen; eine individualisierte Esoterik und Spiritualität ohne überhöhten Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu praktizieren; eine Dialogfähigkeit auch in kritischen Situationen zu entwickeln; die Bedeutung der AG für die gesamte anthroposophische Bewegung greifbar zu machen; eine Kunst zu wollen, die sich den individuellen, spirituellen Erfahrungen stellt; und letztlich eine lebendige, weltoffene, aber auch persönlich erworbene sowie innerlich neugeborene Anthroposophie zu entwickeln, die sich nicht auf die Wiedergabe der Texte und Inhalte von Rudolf Steiner beschränkt. All diese Themen sind schwierig. Aber es ist ja auch ein Jahrhundertwerk, was in den nächsten Jahrzehnten zu leisten ist.
Mir hat das Engagement für die Anthroposophische Gesellschaft riesig Freude gemacht und ich habe viel Lebenskraft und Zeit investiert – in der nächsten Inkarnation gerne wieder! Ich wünsche den jetzigen Vorstandskolleginnen und -kollegen, den Vertreterinnen und Vertretern der Arbeitszentren, aber auch allen Zweigverantwortlichen, dass sie auf ihrem Wege und mit ihren Anliegen weiterkommen.
SK: Danke für Deine Reflexionen und alles Gute für die nächsten Jahre ohne Amt in der Anthroposophischen Gesellschaft.