Anthroposophische Gesellschaft im Wandel - Wie läuten wir das nächste Jahrhundert der Anthroposophie ein?
Die Anthroposophische Gesellschaft und Bewegung hat trotz ihrer ausgesprochen schwierigen Geschichte enorm vieles in den mehr als hundert Jahren ihres Bestehens geleistet. In einem
bunten Strauß von Lebensgebieten sind weltweit wichtige Projekte für das menschliche Miteinander gewachsen. Wir blicken auf ein lebendiges Beziehungsnetz von Anthroposophie-engagierten Menschen über die ganze Erde hinweg. Viele tiefere Freundschaften sind über weite Entfernungen gewachsen und lassen damit kosmopolitischen Geist vielerorts kräftig wehen.
Das äußerlich wahrnehmbare Wachstum des anthroposophischen Organismus scheint aber inzwischen an einer Größe angekommen zu sein, die nun mehr nach innerer Reife und einem Wandel ruft. Wir stehen hier vor einer nächsten Herausforderung von Vertiefung und Entwicklung neuer Qualitäten. Was gilt es also in einem Postwachstum der Anthroposophischen Gesellschaft zu be- und ergreifen? Wie verlassen wir beispielsweise eine abschottende Überidentifikation mit Rudolf Steiner und seinem Gesamtwerk, hin zu einer dem Wesen Anthroposophie gemäßen Entwicklungs- und Weltoffenheit? Wie können wir Rudolf Steiner in seiner Bedeutsamkeit mehr noch in die Welt entlassen, ohne ihn damit fallenzulassen oder zu verlieren, ohne die Anthroposophie in ihrem Kern zu schwächen?
Wir stehen heute an einem Punkt, den wir als Ende oder auch als Anfang bezeichnen können. Beides ist jedoch genau genommen weder falsch noch richtig. Denn sowohl Ende als auch Anfang müssten viel mehr noch Wille werden. Ein Ende, insofern viel gewachsene Tradition, Form und Haltung keinen Zukunftsanker mehr haben und nach Ablösung rufen. Am Anfang stehen wir, insofern wir den Wandel in neue, lebendige Beziehungsqualitäten wirklich wollen und bereit sind, uns als Erkenntnisgesellschaft neu zu erfinden. Die Existenzform einer Anthroposophischen Gesellschaft liegt ihrem Wesen nach immer im Grenzbereich des Verlassens des Alten und muss sich an der Schwelle im jeweilig nächsten Schritt ins Unbekannt-Lebendige bewegen. Und so wollen wir uns mutig fortentwickeln, denn Bestand hat nun mal nur der Wandel. Wenn wir ihn nicht aktiv einleiten, werden wir ihn notgedrungen erleiden.
Die Herausforderungen einer angemessenen Transformation sind eine gesamtgesellschaftliche Notwendigkeit und daher bei weitem kein Alleinstellungsmerkmal der Anthroposophischen Gesellschaft. Sie sind jedoch vielschichtig, komplex und kompliziert, da immer im Zentrum das Individuum steht, von dem der Wandel maßgeblich auszugehen hat. Zwei Perspektiven aus dieser Komplexität möchte ich hier beleuchten.
Mensch, Begegnung und Beziehung
Es liegt im Wesen des Menschen begründet, immer unabhängiger von der Natur werden zu wollen, was inzwischen scheinbar vortrefflich gelungen ist. Nur haben wir auf der Strecke vergessen, dass die Natur ein lebendiger Reflexionsraum der Menschheit ist. Sie stellt uns einen Spiegel auf und zeigt, dass in Wirklichkeit in der Welt nichts voneinander getrennt ist. Rudolf Steiner arbeitete bereits vor hundert Jahren aus, dass die Pflanzenwelt über die ganze Erde hinweg in einem inneren Wesenszusammenhang steht. Inzwischen haben auch die Lebenswissenschaften in den letzten Jahrzehnten immer mehr Wege gefunden, diese umfänglichen Zusammenhänge und wechselseitigen Bedingtheiten zu erforschen und zu belegen. So wissen wir heute auf naturwissenschaftlicher Grundlage, dass Pflanzenarten über sehr weite Entfernungen mit den ihnen innewohnenden Informationssystemen miteinander kommunizieren und beispielsweise durch die Absonderung von Duftstoffen vor Gefahren warnen können. Es gibt anerkannte Studien, die nachweisen, wie der Vogelgesang das Wachstum des Waldes befördert und bedingt oder wie Wüsten und Meere in direkter Beziehung miteinander stehen und vieles, vieles mehr.
Vielleicht beginnen wir gerade, geweckt durch die Extremwetterereignisse, solch existenzielle Hintergründe und Zusammenhänge wieder mehr zu erahnen und auch anfänglich neu zu begreifen. Wir sind nicht getrennt von der Natur, waren es nie und werden es nie sein. Die klimatischen Veränderungen und Extreme hängen offensichtlich mit unserer inneren Entkoppelung von der Natur unmittelbar zusammen. Eine entscheidende Kulturleistung heutiger Zeit wäre die Entwicklung menschlicher Qualitäten, indem wir begreifen, dass wir auch im Sozialen nicht getrennt sind. So will die Bedeutung des Kontakts zu mir selbst, zu meiner inneren Quelle, zu meinen Potenzialen wieder neu entdeckt und entwickelt werden. Ein solches Bewusstsein birgt vielleicht – mehr als wir ahnen – Anfangskräfte und heilende Wirkung für das große Ganze.
Eine Menschenkunde des Ichs, wie sie durch die Anthroposophie veranlagt wurde, bietet hier vielfältige Forschungs- und Erkenntnisansätze im Sinne eines willensdurchdrungenen Denkens, das aus einem inneren Gespräch zwischen Haupt und Herz zu durchdachtem menschlichen Handeln führt – für die Erde als Lebensgrundlage der Menschheit. Die zahlreichen Fragestellungen wie beispielsweise Artensterben, Humusverlust, Rückgang des Grundwassers, Waldsterben sind Aufforderungen, den Karma-Begriff als Karma-Wille zu schärfen. Wie kommen wir deutlicher in eine Haltung, die Verantwortung übernimmt für die späteren Konsequenzen unseres heutigen Verhaltens? Wie werden wir zu Zukunftsgestaltern, die die Lebenschancen späterer Generationen nicht verhindern? Eine Anthroposophische Gesellschaft, die ein zivilgesellschaftlicher Faktor werden will, muss sich diesen Fragen stellen. Dafür brauchen wir tragfähige Beziehungs- und Arbeitsstrukturen, in denen wir die Sache und auch den anderen Menschen ernstnehmen – und ihn auch wirklich meinen, immer unter dem Gesichtspunkt des gesamtökologisch-geistigen Zusammenhangs.
Menschliche Intelligenz als Voraussetzung für einen verantwortlichen Umgang mit künstlicher Intelligenz
Ein weiteres großes Aufgabenfeld der Anthroposophischen Gesellschaft zeigt sich bei dem Blick auf die fortschreitende Digitalisierung in allen Lebensbereichen. Intelligenz künstlich statt persönlich zu entwickeln, wird den Rest individueller Urteilsfähigkeit verdrängen und den Menschen mehr und mehr als Funktionszusammenhang prägen und behandeln. Der bequemste Weg wäre es, sich diesem Paradigma anzugleichen. Demgegenüber braucht die Entwicklung menschlicher Qualitäten eine spirituelle Praxis und Forschungshaltung, die den Wert des Lebens an sich in ihrem Mittelpunkt hält. Eine moralisch-ethische Kraft, die die Entwicklung unseres humanistischen Potenzials selbstverantwortlich im Sinne einer Menschheit als Lerngemeinschaft zu entwickeln sucht. Dies sind Fragen von Qualität und Ästhetik als schöpferischen Prinzipien. Eine sozial wirksame Menschenkunde zu entwickeln, wäre eine angemessene Aufgabe der Anthroposophischen Gesellschaft. Um für solche Forschungs- und Entwicklungsfragen Gesprächs- und Projektpartner zu sein und Beziehungsplattformen zu bieten, braucht es auch eine neue Kulturbildung im Miteinander. Dafür suchen wir vielfältige Mitarbeit und Zusammenarbeit.
Ende und Anfang!
Indem wir solche Wege in die Zukunft nehmen, können wir Altes getrost zurücklassen und uns in die Freude der Anfangskräfte stellen. Verlassen wir die Zuschauerrolle, überwinden wir die Polarisierungen und Separationen für eine neue reale Verbindung, sozial, mit der Natur und mit unserem Planeten, aber auch gegenüber der Anthroposophischen Gesellschaft, damit wir wieder wirklich durch uns selbst zueinander finden. Es sind reichlich Aufgaben für alle da!
Ich plädiere also dafür, die Anthroposophie und ihre Gesellschaft neu zu wollen.
Monika Elbert