Für die Art und Weise meiner Arbeit ist für mich das Punkt-Umkreis-Prinzip relevant
Gerhard Stocker ist bei der vergangenen Mitgliederversammlung der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland als neuer Generalsekretär neben Monika Elbert bestätigt worden. Im Interview spricht er über Perspektiven, Entwicklungsfelder und sein Engagement bei der AGiD.
Sebastian Knust: Nach einem Jahr Vorstandstätigkeit bei der AGiD bist Du nun auch als Generalsekretär von der Mitgliedschaft bestätigt worden. Welche Perspektiven sind für Dich damit verbunden?
Gerhard Stocker: Zunächst möchte ich mich für das Vertrauen bedanken, das mir die Mitglieder der AGiD durch diese Wahl entgegengebracht haben!
Das Arbeitskollegium wird im September eine Klausur haben, in der wir uns über Projekte und Entwicklungsfragen verständigen werden. Es gibt in vielerlei Hinsicht sehr viel zu tun. Die Zeitverhältnisse schlagen hohe Wellen. Da sind immer wieder Kurskorrekturen erforderlich. Der Leitstern auf diesem Weg aber bleibt das anthroposophisch fundierte Verständnis von Mensch und Welt. Wir sollten uns sehr darum bemühen, Form und Dynamik der Anthroposophie als Gesellschaft und Bewegung auszurichten auf das Motiv „Gesellschaft wollen“. Das wird wohl nur gelingen, wenn wir uns verdeutlichen, welche spirituelle Dimension in der Begegnung von Mensch zu Mensch liegt. Ich meine damit nicht ein sozialromantisches Einerlei. Dazu gibt es noch viel zu viel konträre und unterschiedliche Meinungen. Wir sollten also intensiver Kurs nehmen auf geistige Auseinandersetzungen und Erkenntnisgespräche. In einer gesteigerten Dialogfähigkeit sehe ich den Kern, die Quelle für das, was wir in die Zukunft bringen wollen. Das wird dem einen oder anderen zu idealistisch klingen, aber dennoch bin ich überzeugt davon, dass wir eine Gesellschaftsbildung in welcher Form auch immer, nur dann in die Zukunft führen können, wenn wir uns der spirituellen Potenziale in der Menschenbegegnung bewusster werden.
SK: Wo liegen aus Deiner Perspektive die wichtigen Entwicklungsfelder der AGiD in den kommenden Jahren?
GS: Die Quelle von „Gesellschaft wollen“ erschöpft sich nicht in der Interaktion von einzelnen Menschen. Vielmehr sehe ich in diesem Motiv auch die umfassendere Wahrnehmung und Kommunikation der Verbände, die in der sog. Allianz bereits stattfindet. Hier begegnen sich Vertreter von Körperschaften aus den anthroposophisch orientierten Lebensfeldern, die im öffentlichen Raum und Bewusstsein eine relevante Rolle spielen.
Bildung ist und bleibt ein bedeutsames Feld für die Bemühungen der AGiD: Bildungsträger, Ausbildungsstätten, Dozenten, Studierende, Auszubildende, Orientierung-Suchende einladen, ihnen Räume für Begegnung und Austausch bieten, Fragestellungen ins Gespräch bringen, Aspekte menschengemäßer und zukunftsfähiger Bildung herausarbeiten.
Damit ist ein weiteres Entwicklungsfeld berührt. In der Öffentlichkeit wird Anthroposophie nach Kräften diskreditiert. Das blieb und wird auch im Weiteren nicht ohne Folgen bleiben. Auf der anderen Seite ist die Anthroposophische Bewegung so wirksam, dass sie einen guten Leumund liefern kann für ihre gesellschaftliche Bedeutung. Hier müssen wir wach hinschauen.
Wenn wir nach Frankreich schauen, sehen wir, welche negativen Auswirkungen ein konzertiertes und stringentes Polemisieren und Agitieren gegen die Anthroposophie in der Öffentlichkeit zeitigt. In anderen Ländern hingegen wie Brasilien, Ägypten oder Indien blühen Projekte förmlich auf. Wir partizipieren an einer Weltgesellschaft! Das machen wir uns viel zu wenig klar. Wie konkretisieren wir diese Bezüge? Pflegen wir die Kontakte allein zu unseren europäischen Nachbarn intensiv genug?
Einer deutlichen Herausforderung steht die AGiD als Mitglieder-Gesellschaft gegenüber. Mitglied zu werden, ist nicht populär. Die Zahlen gehen nach unten. Wir sind eine Post-Wachstums-Gesellschaft. Die Neuzugänge gleichen die Abgänge nicht aus. Was ist also zu tun? Diese Frage wird uns künftig mehr und mehr beschäftigen. Hier müssen wir Antworten finden!
Die Gründung der Jugendsektion in Deutschland ist eine sehr erfreuliche Entwicklung. Die AGiD hat hier die Aufgabe, junge Menschen darin zu unterstützen, gesellschaftliches Leben zu realisieren, in ein Miteinander zu kommen über regionale und nationale wie auch über Generationen-Grenzen hinweg.
SK: Wie möchtest Du diese Entwicklungsfelder mitgestalten?
GS: Für die Art und Weise ist für mich das Punkt-Umkreis-Prinzip relevant! Eine mitempfindende Wahrnehmung und eine detaillierte Kenntnis des Umkreises ist die Voraussetzung für Bewegungen, die von mir als Einzelnem ausgehen. Ob das initiativ sein kann, hängt davon ab, was im Umkreis bereits vorhanden ist. Nur so, denke ich, stellen sich Resonanzen ein, die Gestaltung und Entwicklung möglich machen. Das mag sehr allgemein klingen, ist aber m. E. eine Grundbedingung der kollegialen Arbeit. Was daraus konkret wird, werden wir sehen.
SK: Vielen Dank!
Gehard Stocker | geboren 1957, verbrachte seine Kindheit in einem kleinen Städtchen südlich der Donau. Nach der Schulzeit studiert er zwei Semester Philosophie in Augsburg. "Lebenspraktische Philosophie" praktizierte als biologisch-dynamischer Gärtner bei Stuttgart, Marburg und Witten. Seit 2009 arbeitet er im Kollegium des Arbeitszentrums NRW in Bochum und ist dort Mitglied des Leitungskreises des Arbeitszentrums und Geschäftsführer der Fakt21 Kulturgemeinschaft. Seit 2022 ist er Vorstandsmitglied der AGiD.