Neue Rechte und anthroposophisches Milieu
Zu Martin Barkhoff & Caroline Sommerfeld: ›Volkstod – Volksauferstehung‹*. Erschienen in der Zeitschrift DieDrei, Ausgabe 2024-01.
Eine Veröffentlichung aus dem Jahr 2021 erlangte im vergangenen Sommer neuerlich Aktualität. Das Buch des Autoren-Duos Martin Barkhoff und Caroline Sommerfeld erschien im Antaios Verlag, der in dieser Zeitschrift eher selten Beachtung findet. Versorgt er doch vor allem das Umfeld der AfD mit Lesestoff – und hier vielleicht diejenigen mit intellektuellem Anspruch. Im Zuge des Zulaufs, den diese Partei am äußersten rechten Rand der demokratischen Legitimation heute erlebt, scheinen vermehrt auch anthroposophisch Orientierte diesem Umfeld etwas abgewinnen zu können.
Anlass für die erneute Diskussion gab ein Tagesseminar mit Martin Barkhoff Anfang Juli letzten Jahres im Hamburger Rudolf Steiner Haus. Nachdem Jens Heisterkamp für die Zeitschrift ›Info3‹ dieses Seminar unter Hinweis auf revisionistische und reaktionäre Tendenzen in dem von ihm und Sommerfeld verfassten Buch kritisch befragte,[1] wurde seitens der Leitung des dortigen Zweiges der Anthroposophischen Gesellschaft eine Stellungnahme veröffentlicht, in der es heißt, dass man sich von Barkhoff distanziere.[2] – Wie auch immer, man muss sich seitdem umso energischer fragen, wie weit das Feld der Überschneidungen eines Denkens im Anschluss an Rudolf Steiner und eines rechtsextremen, völkisch-nationalistischen Denkens heute tatsächlich reicht.
Martin Barkhoff und die Co-Autorin Caroline Sommerfeld, so ihre Worte in der Einführung, betitelt: ›Mitten im Kampf‹, haben es genau auf die oben gekennzeichnete Zielgruppe abgesehen, d.h. auf jene »nicht wenigen Leute im weiten Überschneidungsbereich zwischen der politischen Rechten, der mutigen Anthroposophenszene und der wachsenden Wahrheitsbewegung «. (S. 1) – Der im anthroposophischen Umfeld bestens bekannte Barkhoff war von 1984 bis 1996 zusammen mit Manfred Krüger Chefredakteur der Wochenschrift ›Das Goetheanum‹ und lebt inzwischen länger schon, u.a. als Dozent für Waldorfpädagogik, in Peking. Caroline Sommerfeld ist eine namhafte, in Wien lebende Publizistin und Aktivistin der ›Identitären Bewegung‹. Diese hat sich seit den 2000er-Jahren formiert, in Österreich wie auch in anderen europäischen Ländern, und wurzelt in französischen und italienischen Gruppen teils neofaschistischer Provenienz. Die »Identitären « favorisieren über Landesgrenzen hinweg eine geschlossene europäische Identität, die es gegen Bedrohungen von außen, etwa die sogenannte fortschreitende Islamisierung europäischer Gesellschaften, zu verteidigen gelte.
Barkhoff und Sommerfeld bedienen in ihrem als Buch herausgegebenen Briefwechsel aus den Jahren 2020 und 2021 ohne viel Aufhebens die Terminologie neu-rechter Kreise, was jeweils wach zu vermerken ist, um es richtig einzuordnen. So ist mit der »wachsenden Wahrheitsbewegung« wohl jene lose Gruppierung gemeint, deren Wurzeln ursprünglich in den USA liegen und die dadurch bekannt wurde, dass aus ihren Reihen eine Mit- oder Alleinschuld der US-Regierung für die islamistischen Angriffe auf das World Trade Center vom 11. September 2001 behauptet wurde. Die Anhänger dieses »9/11 Truth Movement« wurden »Truthers« genannt. Heute verstehen sich die »Truthers« als »Infokrieger«, welche die Öffentlichkeit – entgegen vermeintlicher Desinformation durch die »Mainstream-Medien« der »Eliten« – über die wahren Verhältnisse aufklären wollen. Gemeint sind dabei »Eliten«, die angeblich mehr oder weniger im Hintergrund das Weltgeschehen kontrollieren. Dementsprechend bemühen die Autoren im einführenden Text die Formulierung von den »volksabschaffenden Eliten«. (S. 1) Später wird auch die Rede sein von der »globalistischen Elite« (S. 23).
Schnellroda als Sehnsuchtsort
Dazu passt, dass Barkhoff und Sommerfeld ihren Briefwechsel dem der Neuen Rechten zuzurechnenden Thor von Waldstein widmen, einem ehemaligen NPD-Mann, der sich schon als Student mit der französischen ›Nouvelle Droite‹ befasste und 1989 über die Staatslehre des Faschisten Carl Schmitt promovierte, der zudem als Rechtsanwalt u.a. dafür bekannt wurde, dass er einen prominenten amerikanischen Holocaust-Leugner vor Gericht verteidigte.[3] Die Autoren waren ihm in Schnellroda begegnet, wo er ihnen »so förderlich unzufrieden« vorgekommen war. Schnellroda wiederum steht für das u.a. von dem rechten Theoretiker Götz Kubitschek gegründete ›Institut für Staatspolitik‹ (IfS), eine Denkfabrik der Neuen Rechten und der AfD, die vom Landesverfassungsschutz Sachsen-Anhalt als gesichert rechtsextrem und verfassungsfeindlich eingestuft wird. Kubitschek und seine Frau Ellen Kositza leben dort, im südlichen Saalekreis, in einem ehemaligen Herrenhaus, in dessen Bibliothek die besagte Begegnung mit Thor von Waldstein stattfand. Schnellroda ist außerdem der Sitz des von Kubitschek geleiteten Antaios Verlages.
Schnellroda kommt in Abschnitt V des Buches erneut in den Fokus, als es darum geht, dass der Briefwechsel zum Erliegen kommen könnte, weil Barkhoffs Beiträge die seiner Briefpartnerin immer mehr überwiegen – allein schon quantitativ. Da besinnen sich beide auf ihren gemeinsamen Bezugspunkt. Barkhoff: »Was für eine Schicksalskonstellation! Du und ich finden in der Waldorfwelt zusammen […]. Du hängst eng mit Schnellroda zusammen, und mir war dieser Arbeitsort in all den Politdramen als geistig klarster, sauberster aufgefallen. Da wollte ich Dich treffen.« (S. 89f.) – Im Zusammenhang mit Barkhoffs Auftritt im Hamburger Steiner-Haus wurde seine Aussage kolportiert, er habe das vorliegende Buch als Provokation gegen rechtes Denken in den Antaios Verlag gegeben und sich darüber gewundert, dass der Verantwortliche – wohl Götz Kubitschek – es annahm. Diese Erzählung vom taktischen Täuschungsmanöver stimmt aber nicht gut zusammen mit Barkhoffs expliziter, identifikatorischer Begeisterung für Schnellroda und seiner Verneigung vor Thor von Waldstein.
Barkhoffs Sehnsuchtsort Schnellroda sei noch von einer weiteren Seite her beleuchtet. Denn die zentralen Träger der dortigen Arbeit, Kubitschek und Kositza, sind freundschaftlich verbunden mit Björn Höcke, dem Vorsitzenden der Thüringischen Landtagsfraktion der AfD. So hat der ›Kanal Schnellroda‹ die 80-minütige Video-Aufzeichnung eines Gesprächs aus dem Spätsommer 2023 veröffentlicht, zu dem Kositza, Kubitschek und Höcke sich in dem Herrenhaus getroffen hatten. Das ist durchaus von Interesse, weil Höcke hier mitteilt, dass seine philosophische Sommerlektüre des vergangenen Jahres keine andere war als Rudolf Steiners ›Wahrheit und Wissenschaft‹.[4] Das Interesse, das der Szene am äußerst rechten Rand des gesellschaftlichen Spektrums von Menschen mit anthroposophischem Hintergrund entgegengebracht wird, scheint also auf »Gegenliebe« zu stoßen. Höckes Statement stimmt in der Intention, Leute von rechts außen und solche aus dem anthroposophischen Umfeld zu sammeln, offenkundig mit dem Briefwechsel von Sommerfeld und Barkhoff ganz überein.
Das kommende Reich
Damit kommt die Betrachtung – nach Ausleuchtung des Umfelds, in welches das Buch ›Volkstod – Volksauferstehung‹ sicherlich bewusst hineingestellt wurde – zum Inhaltlichen. Denn es dürfte das Wort vom »Volkstod«, im Titel des Buches, nicht zuletzt als eine Referenz zur Rede vom »Volkstod« in den Reihen der AfD und ihrer Sympathisanten verstanden werden. Allerdings steht für Barkhoff die Auffassung, dieser werde durch einen absichtlich herbeigeführten »Bevölkerungsaustausch« verursacht, nicht im Vordergrund. Vielmehr sieht er dreierlei Gründe für einen möglichen Volkstod: in der eigenen Schwäche des deutschen Volkes, dann im Wirken entschlossener Feinde und schließlich im Walten von »Weltenmächten « (S. 7), und zwar auch solchen, die spirituell zu verstehen sind, etwa als »Lügengeister«, die im Kampf mit den »Wahrheitsmächten« stehen. Das Wort von der »Volksauferstehung« wiederum taucht zuerst im 19. Jahrhundert auf, als sich im Zuge der Restauration – nach Zurückschlagung der napoleonischen Herausforderung – die Bemühungen konzentrieren, einen deutschen Nationalstaat zu errichten.
Im Folgenden wird die große Erzählung nachgezeichnet, die Barkhoff für seine Briefpartnerin entwirft. Wenn das durch den Volkstod bedrohte und hindurchgegangene Volk einmal auferstehen soll, dann geht es dem Erzähler nicht um die Erneuerung eines National- oder föderalistischen Staates, etwa der Bundesrepublik Deutschland als einer, wie er findet, »illusionären ›Demokratie‹« (S. 86). Vielmehr hat er das Wiedererstehen »des Reiches« vor Augen, d.h. das Erstehen eines christlichen Reiches – in Anlehnung an die zweite Bitte des Vaterunsers: »Dein Reich komme.« Dabei ist deutlich, dass dieses Reich gemäß dem Christuswort zunächst »nicht von dieser Welt« ist (Joh 18,36). Doch müsste – für Barkhoff – die generelle Linie künftigen gesellschaftlichen Handelns darin liegen, aktiv und willensstark dahin zu wirken, ein solches christliches Reich sehr wohl »in dieser Welt« zu realisieren, sodass es sich hier im Alltäglichen einwurzeln kann. Das klingt zunächst sehr hehr – wirkt aber bei genauerem Hinsehen doch recht eigenwillig.
Unter Hinweis auf den Zusammenhang der ersten drei Bitten des Vaterunsers schreibt Barkhoff in idealistisch-apokalyptischer Blickrichtung: »In den drei Bitten übt man drei Verdichtungsstufen, drei Inkarnationsstufen des Christentums zu wollen. Mit diesem Gebet beteiligt uns der Gottmensch an seiner schrittweisen Durchdringung der Menschheit. / Zuerst: Die Heiligkeit des Namens soll ausstrahlen – das ist noch nicht die Sache selbst. / Dann: Das Göttliche reicht realiter bis zum Menschen hin, nicht als Botschaft, nicht übermittelt. Es erreicht den Menschen unvermittelt. / Zuletzt: Die Gottheit wohnt dem Menschen ein. Christus lebt so im Menschen, dass er unmittelbar gegenwärtig ist. Sein Wille geschieht.« (S. 28) Barkhoff versteht seinen Ansatz durchaus als apokalyptisch. Die Menschheit sei mit dem Jahr 1900 aus einer »protoapokalyptischen« in die »apokalyptische« Periode übergewechselt (vgl. S. 85). Anzeichen für diesen Übergang habe man deutlich vor sich in den großen Niedergängen, die seit Beginn des 20. Jahrhundert eintraten und in die sich auch der drohende deutsche Volkstod einreihen lasse. Trotz dieser Todesperspektive sieht der Briefeschreiber große künftige Aufgaben für die Deutschen, die dazu eben als Volk auferstehen sollen – den Blick stets auf das kommende »Reich« gerichtet. So heißt es, dass die zurückliegenden zwei Jahrtausende Christentum vor allem durch das »Kirchenchristentum« geprägt wurden, die Zukunft aber im Zeichen des »Reichschristentums « stehen solle, was sich schon seit mehr als tausend Jahren vorbereitet habe: »Mit dem Auftreten der Germanen stellte sich neben den romanisch-griechischen Kirchenimpuls ein Christentum als Reichsimpuls. Diejenigen Germanenstämme, die nicht nach Süden zogen, die nicht die lateinische Sprache annahmen, sie wollten in ganz naiver Weise Christus als Herzog, als König – und wollten für sein Reich einstehen, als Bauern und Ritter. Nicht der Kirchenapparat hielt für sie die Christenheit zusammen; das tat das Reich.« (S. 29)
Daraus wird der Anspruch abgeleitet, dass die Deutschen als Nachfahren dieser Germanen dazu bestimmt sind, die Entwicklung hin zur Verwirklichung des »Reichschristentums« anzuführen. Eine Entwicklung, die im Wesentlichen erst noch bevorsteht: »Man kann es […] begründet finden, das Christentum auf der Erde am Ende des ersten Drittels seiner Entwicklung zu sehen. Das Primat könnte vom Kirchenchristentum, der vorrangigen Aufgabe der Italiener, auf das Reichschristentum übergehen – wenn es dem deutschen Volk gelingt, in seinem größten Stirb-und-werde-Prozess für diese Aufgabe reif zu werden.« (S. 30) Hier schwingt die Vorstellung mit, dass Italiener, Deutsche und Russen »Christusvölker« seien, dass das erste Drittel der Entwicklung des Christentums italienisch bestimmt war, das zweite Drittel hingegen deutsch und das dritte russisch bestimmt sein werde. Darin verbirgt sich die Perspektive, dass – nach Ablauf der gegenwärtigen fünften Kulturzeit im Sinne Rudolf Steiners – etwa ab dem Jahr 3600 die aus der slawischen, osteuropäischen Menschheit hervorgehende sechste Kulturzeit heraufziehen soll.
Die Scheidung der Geister
Vor diesem Zukunftshorizont will es Barkhoff umso plausibler erscheinen, was sich ihm zufolge gegenwärtig weltweit und insbesondere in Europa abspielt. Mit dem Eintritt in die apokalyptische Zeit – um 1900 – ist seiner Erzählung gemäß Gravierendes verbunden. Es kommt nämlich zur großen Scheidung und sie ist schon im Gange, indem sich die Wege des künftigen Christus-Reiches und des Reiches des Antichristen trennen. Ein Geschehen, das markant eine Entwicklung betrifft, die sich über Jahrtausende hinweg vollzieht.
So spricht Barkhoff von dem Zeitraum ab dem Jahr 4000 n. Chr. etwa als von der Zeit einer »Einwohnungsbewegung«, eines »Einwohnungschristentums «, seiner Ansicht nach vor allem getragen vom russischen Volk, in der sechsten Kulturzeit. Und dies steht für ihn in Verbindung mit der dritten Vaterunser-Bitte: »Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.« Zum Abschluss von Abschnitt II des Buches bringt er dazu eine farbige Zeichnung, an der anschaulich werden soll, wie die gesamtzivilisatorischen Auswirkungen der dreierlei Arten, mit dem Christuswirken verbunden zu sein, aussehen: bei Italienern, Deutschen und Russen. Eine Zeichnung, die auch nochmals klarmachen soll, dass die eigentliche, zweitausendjährige »Reichsbewegung«, angeführt von den Deutschen, gerade erst beginne. Im Kommentar dazu heißt es mit Blick auf die Gegenwart: »Wir wären nach 2000 Jahren da, wo die Kirchenströmung zurücktritt und die verwandelte, auferstehende Reichsströmung dominant wird.« (S. 43)
Die seit etwa einem Jahrhundert sich abspielende, schon erwähnte Trennung der zeitgeschichtlichen Entwicklungswege, die Scheidung der Geister, die jetzt stattfinden soll, leitet Barkhoff – im Sinne der Anthroposophie – von der großen Bewegung der Kulturepochen her. Diese Bewegung, gut neuntausend Jahre zurückreichend, umfasst laut Steiner die uraltindische, die altiranische, die ägyptisch-chaldäische, die griechisch-lateinische Kultur sowie die ersten sechshundert Jahre der jetzigen Kulturzeit – die wiederum zunächst geprägt ist, in der Diktion Barkhoffs, von den »englischsprechenden Mächten und ›Mitteleuropa‹« (S. 85), zwei »Reiche«, die sich mit sehr unterschiedlichen Impulsen gegenüberstünden. Heute, in der »apokalyptischen Periode«, müsse es zu einer »Kehre des Stromes« kommen. Denn ginge die Bewegung der Abfolge der großen Kulturen bisher von »Süd-Ost« nach »Nord-West«, so wende sie sich jetzt um in Richtung »Nord-Ost«. Diese heideggerianisch als »Kehre« bezeichnete Wende sei verbunden mit der Abtrennung der gewollten Entwicklung von allem, was sich weiterhin nach Westen orientiert. Denn es sei ja deutlich, dass »die West-Macht […] mit der Erneuerung des Christentums nichts zu tun haben kann und will«. (S. 86) – Dabei wird mit »West-Macht« – sie soll sich, genauer gesagt, nach »Süd-West« (S. 86) weiterentwickeln – das zusammengefasst, was über das Buch verteilt angesprochen wird als das Reich »jener Mächte, die die Menschheit als Ressource auszubeuten gedenken« (S. 5), der »volksabschaffenden Eliten« (S. 1), ein Reich, bestimmt durch »die Mächte Geld, ›Demokratie‹ und Medien« (S. 85), welches zugleich das Reich ist, mit dem es nur weitergeht »in den Antigeist, in den Lügengeist hinein, in das Machtwirken der Wahrheitslosigkeit«. (S. 85)
Nach Osten keine Grenze
Das Reich aber, das aus der Kehre nach »Nord- Ost« hervorgeht, stützt sich zuerst noch auf die Kräfte »im Innern« (S. 86). In den Deutschen als Trägervolk des kommenden Reichs entwickeln sich diese inneren Kräfte vor allem als Ich-Kräfte, durch deren Wärme-Natur sie ihre Verbindung zu den Christus-Kräften ausbilden Nachdem Caroline Sommerfeld Phänomene wie die bundesdeutsche »Willkommenskultur«, Aufrufe »gegen den Hass«, Aufrufe zu »Menschlichkeit « und »Empathie« (S. 95) geringschätzig als ungeeignete Wärme-Phänomene ausgemacht hat, dem Reich des »Ersatzchristus« zuzuordnen, geht Barkhoff daran, zu differenzieren: »Naturmensch – gegebene Wärme – hält schläfrig – ›naiv‹ / Gesellschaftsmensch – Kälte – macht wach – ›kritisch‹ / Ich-Mensch – ›andere Wärme‹ – ist schöpferisch – ›aufbauend‹« (S. 97) Der »Gesellschaftsmensch« würde dabei wohl dem Reich des westlichen Antigeistes angehören. Die Formel »andere Wärme« übernimmt Barkhoff aus einem Brief Sommerfelds, doch etwas später schreibt sie: »Ich würde sie lieber ›höhere Wärme‹ nennen.« (S. 101)
Vieles ist hier so gehalten, dass dem auch Leser, die an Rudolf Steiner anschließen, auf den ersten Blick vielleicht zustimmen möchten. Das dürfte aber nur so lange angehen, wie man den Kontext des Ganzen außer Acht lässt.
Bevor dem nachgegangen wird, noch weitere Ausblicke, die Barkhoff in seiner visionären Erzählung bereithält. Wohin die Entwicklung, die sich nach »Süd-West« ausrichtet, tendiert, wurde bereits nachgezeichnet: in die Welt des »Antigeistes«. (S. 85) – Wohin geht es aber qualitativ für jene, welche die »Kehre« des weltgeschichtlichen Stroms nach »Nord-Ost« nachvollziehen? Es liegt auf der Hand, dass nun – im Sinne von Barkhoffs Rede über die Russen als das dritte Christusvolk – die vom Deutschtum getragene »Reichsbewegung« einen Kurs vorgibt, der auf das Zusammengehen mit dem russischen Volk zuläuft. Für das Folgende bezieht sich der Briefeschreiber auf Rudolf Steiner, allerdings ohne nähere Quellenangabe. Der Begründer der Anthroposophie soll demnach gesagt haben, dass dann, wenn aus dem weltweiten Umkreis, für den allgemeinen Fortschritt, mitteleuropäische Geistigkeit ergriffen werden will, womöglich Mitteleuropa das Entsprechende zu geben nicht in der Lage ist. Dies käme einer Katastrophe gleich, weil doch, so Barkhoff, das Katalysatorische der »Willensdeutschen […] in den riesigen Gebieten nach Osten hin überall gebraucht wird«. (S. 83) Der »Hauptwirkensbereich des Mitteleuropäischen im engeren Sinne« gehe ihm zufolge »nach Eurasien herüber«. (S. 83f.) Und dann: »Steiner bringt es auf die Formel: ›Mitteleuropa hat nach Osten keine Grenze‹« (S. 84) – Dieser letzte Satz wird durch Redezeichen als Zitat ausgewiesen. Die digitalisierte Volltextsuche ergibt aber, dass sich zumindest in der vorliegenden Gesamtausgabe der Werke Rudolf Steiners dieser Wortlaut nicht findet. Wie auch immer: Eine solche Wendung klingt allzu sehr nach der Forderung nach »Lebensraum im Osten!«, die schon in der wilhelminischen Ära laut und bei den Nazis zur Handlungsmaxime wurde.
Damit eröffnen sich weitere Fragen an den Text und an den Kontext im Ganzen. Ist das, was Barkhoff ausbreitet, bloß eine »idealistische « Erzählung oder impliziert es ein politisches Programm? Und welche Bezüge gibt es zum Rechtsextremismus?
Barkhoff demonstriert Distanz zum Nationalsozialismus, indem er vom »Hitler-Phänomen« (S. 26) spricht. Es habe damals Gruppen gegeben, die von Anfang an das Verkehrte daran sahen, andere, die mittendrin aufwachten, und solche, die es bis zum Schluss richtig fanden und erst nachher verstanden, was falsch gelaufen war. An einer anderen Stelle heißt es: »Die Herren von 33 bis 45 […] führten mit ihrem Nationalegoismus eben kein Reich weiter, standen nicht in der Sukzession des Heiligen Reiches.« (S. 72) – Diese Bekenntnisse stehen jedoch in scharfem Kontrast zu weiteren Äußerungen. Da geht es einmal um die »eindrucksvolle Kampfkraft der deutschen Armeen in den letzten 160 Jahren« (S. 100). Barkhoff möchte dieselbe mit der besonderen Ich-Kraft der Deutschen erklären: »Soweit man es vermochte, hat man den Ich-Menschen in jedem Offizier, möglichst in jedem Soldaten aufgerufen.« (ebd.) Und er zitiert den US-amerikanischen General George S. Patton, der mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg die deutsche Armee als die »militärisch und moralisch beste« (ebd.) beurteilt hatte. Dass der für seinen Antisemitismus bekannte Patton dabei über die von der Wehrmacht verübten Massaker, z.B. in Wolhynien und Ostgalizien, hinwegsah, verschweigt Barkhoff. Und im Verhältnis zu ihrem Oberbefehlshaber Hitler haben die deutschen Generäle bekanntermaßen sehr wenig Ich-Kraft bewiesen.
Konkrete Politik?
Begeisterung für totalitäre Regimes und Machthaber schwingt ebenfalls mit, wenn der kommunistische Diktator Mao Zedong als Vorbild eines Kämpfers im »geistigen Kampf« (S. 17) angeführt wird: »Der chinesische Volksgeist hat Mao ausgewählt, um China zu erneuern.« (S. 90) Und: »Das chinesische Reich hat er [der chinesische Volksgeist] durch Mao entjapanisiert, konsolidiert und neuzeitfähig gemacht.« (S. 90) – Hier wird der Umstand ignoriert, dass Mao Zedong nach heutigem Wissen für 40 bis 80 Mio. Tote verantwortlich war.[5]
Mit Blick auf das kommende Reich und auf das, was zu seiner Verwirklichung erfolgen soll, schreibt Barkhoff: »In alldem stehen die Deutschen als der Herzimpuls, als das heilige Herz der Völker.« (S. 38) Und: »Die Deutschen sind geistig das Kernvolk.« (S. 63) Sommerfeld fragt nach der Politisierung dieser Mission (vgl. S. 68) und gibt darauf die vorläufige Antwort, dass eine solche nicht angesagt ist, »weil die Mission der Deutschen auf einer ganz anderen Ebene liegt« (S. 69). Und: »Viel verborgener, viel näher dran an den himmlischen Hierarchien, in gewissem Sinne viel ›esoterischer‹ ist sie zu verstehen.« (S. 69) – Barkhoff seinerseits bemerkt: »Alles Organisatorisch-Großflächige scheint mir gegenwärtig überflüssig und kann sogar schädlich werden.« (S. 75) Und: »In den nächsten Jahren muss man erstmal sich selber fit halten und seinen näheren Umkreis stärken.« (S. 75) Aber: »Wenn man in unserer Phase das Bild des kommenden Reiches in sich entfaltet, macht man Geschichte. – Wenn dann später der Strom zunimmt, wird man in der praktischen Aufbauarbeit Geschichte machen.« (S. 73) – Die »großflächige« politische Aktion wird also in der Folge durchaus kommen.
Es sei schließlich darauf hingewiesen, dass Barkhoff sich hinsichtlich der Jetztzeit unmissverständlich politisch positioniert, wenn er etwa die Wahl Joe Bidens zum US-Präsidenten im Herbst 2020 als »Wahl« in Anführungszeichen »über die Bühne« (S. 79) gehen lässt, sie also nicht anerkennt, oder indem er erklärt, was man wird »erreichen müssen«, nämlich u.a.: »anstatt illusionärer ›Demokratie‹: das Reich« (S. 86). Hier steht wiederum der Terminus »Demokratie« in Anführungszeichen.
Als Fazit kann somit festgehalten werden, dass die hier entwickelte, religiös-idealistische, von nationalem Größenwahn geprägte Reichs- Phantasie eine bedenkliche Nähe zu rechtsextremen Positionen aufweist, sobald sie mit der Sphäre konkreter Politik in Berührung kommt. Das ist umso schlimmer, als immer wieder der Eindruck erweckt wird, dass man sich auf dem Boden der Anthroposophie bewegt.
Es dürfte deshalb hilfreich sein, sich kurz zu vergegenwärtigen, wie – unter einem gewissen Aspekt – von Rudolf Steiner her über den deutschen Volksgeist gedacht werden kann. Worum geht es, wenn gesagt wird, dass nach vielen Jahrhunderten, um das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts, der frühere deutsche Volksgeist – der Erzengel Michael – seine Aufgabe an einen deutlich »jüngeren« Erzengel abgegeben hat? Wichtige Einsichten dazu hinterließ der Historiker und Anthroposoph Karl Heyer.[6]
An dieser Stelle ist ein kurzer Ausflug in das Gebiet der spirituellen Hierarchien notwendig, über die Rudolf Steiner vielfach aufklärte. Wie die Engel Hüterwesenheiten des einzelnen Erdenmenschen sind, so spielt sich das geschichtliche Werden von Völkern und Nationen so ab, dass bestimmte Erzengel-Wesenheiten dieses Werden geistig führen – deshalb bezeichnet Rudolf Steiner sie als »Volksseelen« oder »Volksgeister «. Dazu gehört auch eine Art von Erzengeln, die insbesondere in die Ausprägung der Sprache des betreffenden Volkes hineinwirken. So wirkte der aus der germanischen Mythologie bekannte Odin durch lange vorchristliche Zeiträume in die Ausbildung der germanischen Sprachen hinein. Wenn Rudolf Steiner von »Wotan« spricht, für gewöhnlich das Synonym von »Odin«, so meint er einen gewissen Eingeweihten, der in menschlicher Gestalt dem Erzengel-Wirken Odins diente.[7]
Dieser »Wotan« vollzog die immer tiefer gehende Inkarnation der Seelen in Nord- und Westeuropa, die sich in den letzten Jahrhunderten vor dem Christus-Ereignis ereignete, nicht mit. Er inkarnierte sich stattdessen dort, wo die Leiblichkeit durchlässiger blieb: im asiatischen Raum. Und dieser »Wotan« war derselbe, der dann als der Bodhisattva Siddharta Gautama unter dem Bodhi-Baum in Nordindien zu dem »Erwachten« wurde, zu dem Buddha.[8]
Als Buddha bedurfte Siddharta Gautama, der frühere »Wotan«, eines individuellen Engels nicht mehr, weil er durch die vollkommene Läuterung und Umwandlung seiner astralischen Leiblichkeit gleichsam selbst zum Engel geworden war. Dadurch wurde sein Engel frei für höhere Aufgaben und stieg zum Rang eines Erzengels auf.[9] In seinem Buch über den deutschen Volksgeist macht Heyer plausibel, dass diese Wesenheit nun jene Aufgabe übernahm, die der frühere Erzengel Michael innehatte, bevor er seinerseits in den Rang der Archai aufstieg und zum Zeitgeist wurde. Die frühere »Stelle« Michaels wurde sozusagen frei, und jene Wesenheit trat in sie ein – jetzt als ein »junger« Erzengel, ein »junger« Volksgeist.[10]
Vor diesem Hintergrund ist es aufschlussreich, dass Rudolf Steiner auf zwei Notizblättern eine Zeichnung mit einer Kurve hinterließ, die besonders intensive Verbindungen des früheren deutschen Volksgeistes mit der Kulturentwicklung innerhalb der physischen Verhältnisse darstellt: einmal um das Jahr 1200, dazu der Name »Walther« (von der Vogelweide), und dann zur Goethezeit. Hier steht die Jahreszahl 1832, nach der die Linie sich nur noch punktiert fortsetzt – die Wirksamkeit geht von nun an ganz zurück. Dann folgt nach einer mit »Jetztzeit« überschriebenen Zäsur eine kurze, aufsteigende Linie für die neue Wirksamkeit, dazu die Worte: »Internationale GW fängt auf« (»GW« bedeutet Geisteswissenschaft). Zur abflauenden Linie heißt es: »[B]is zum Ende dieser Strömung wirkt das Deutsche«. Und auf dem zweiten Notizblatt (RSA I A NZ 6523) steht: »Die von allem Nationalen unabhängige GW fängt den Goetheanismus auf und verwandelt ihn 1. in das geistige Begreifen der Welt / 2. in die soziale Dreigestaltung der Welt.«[11]
Man kann mit Blick auf das Wort »Internationale GW fängt auf« bemerken, dass die buddhistische Tendenz, also die Tendenz zur Selbstlosigkeit, wie sie von dem Nachfolger des deutschen Volksgeistes, dem früheren Buddha- Engel ausgehen dürfte, schon von sich aus einen starken Zug zur Internationalisierung aufweist. Offenkundig ist dieser junge deutsche Volksgeist also eng mit der international wirkenden Geisteswissenschaft verbunden, jeden Zug zum Nationalen aufgebend.
Gegen Ende des Briefwechsels beschwört Martin Barkhoff den Erzengel Michael als »den Volksgeist, den Gemeinschaftsgeist« (S. 117), der die Volksgeister der Völker eines »weltweiten Mitteleuropa« (ebd.) vereinigt. Dies kann nur als eine verfälschende Sicht auf Michael erscheinen, der doch im Sinne Rudolf Steiners – seit er die Aufgabe als Volksgeist der Deutschen weitergab – nun für Jahrhunderte als Zeitgeist wirkt und in der Menschheit nirgends Völkisches, sondern eben überall das Internationale, das Kosmopolitische inspiriert.[12]
Klaus J. Bracker, *1956, Krankenpfleger, Eurythmist, Heileurythmist, Waldorfpädagoge und Buchautor, zahlreiche Beiträge in die Drei.
* Martin Barkhoff & Caroline Sommerfeld: ›Volkstod – Volksauferstehung. Achtundzwanzig Briefe aus Wien und Peking‹, Antaios Verlag, Schnellroda 2021, 120 Seiten, 16 EUR.
[1] Vgl. Jens Heisterkamp: ›Falsch abgebogen‹, in: ›Info3‹ 9/2023.
[2]https://www.anthroposophie-gegen-rassismus.de/blog/falsch-abgebogen-distanzierung-des-rudolf-steiner-hauses-hamburg
[3]https://de.wikipedia.org/wiki/Thor_von_Waldstein
[4] Vgl. www.youtube.com/watch?v=zmA4ABhnch8 ab Min. 3:32.
[5]https://de.wikipedia.org/wiki/Mao_Zedong
[6] Vgl. Karl Heyer: ›Wer ist der deutsche Volksgeist?‹, Basel 1990, Kap. 8., sowie Klaus J. Bracker: ›Buddha und der deutsche Volksgeist‹, in: ›Der Europäer‹ Februar 2012, S. 27-30.
[7] Vgl. Vorträge vom 13. und 14. August 1908 in Rudolf Steiner: ›Welt, Erde und Mensch‹ (GA 105), Dornach 1983.
[8] Vgl. Vortrag vom Vortrag vom 12. September 1908 n ders.: ›Ägyptische Mythen und Mysterien‹ (GA 106), Dornach 1992.
[9] Vgl. Vorträge vom 18. und 20. Mai 1913 in ders.: ›Vorstufen zum Mysterium von Golgatha‹ (GA 152), Dornach 1990.
[10] Zur Frage nach dem deutschen Volksgeist vgl. Steffen Hartmann: ›Wer ist Widar?‹, in: die Drei 7-8/2018. S. 29f.
[11] Zitiert nach Fritz Götte: ›Die Aufgabe der Deutschen auf sozialem Felde‹, in: ›Mitteilungen aus der anthroposophischen Arbeit in Deutschland‹ Ostern 1959, S. 5.
[12] Zum »Kosmopolitischen« vgl. Hartwig Schiller: ›»Es hört doch jeder nur, was er versteht …« – Zur Neuherausgabe von Rudolf Steiners »Volksseelenzyklus «‹, in: die Drei 11/2017, S. 61f.