Rezension: Rudolf Steiner zu Individuum und Rasse. Sein Engagement gegen Rassismus und Nationalismus
Sachbezogen
Die anthroposophische Bewegung kann sich im Steinerjahr 2011 nicht über mangelnde öffentliche Aufmerksamkeit beklagen. Ich nenne nur das Medienecho, das mehrere neue Steiner-Biographien auslösen werden. Zu den beachtenswerten Publikationen gehört auch die jetzt vorliegende Studie von Uwe Werner, eines Autors, der sich am aktuellen Diskurs um Rudolf Steiner seit Jahren engagiert und mit Sachkenntnis beteiligt. Die Öffentlichkeit wird in naher Zukunft erneut mit einem Thema konfrontiert sein, das viele Anthroposophen schon als zur Genüge abgearbeitet und erledigt betrachten: Das Verhältnis der Anthroposophie zu Rassismus und Nationalismus. Geistesgegenwärtig greift Werner in diese Debatte ein, die nicht zuletzt auf Grundlage einer neuen umfangreichen Studie des amerikanischen Junior-Professors Peter Staudenmaier Between Occultism and Fascism (2010) in Gang gekommen ist. Diese Studie, an deren Zustandekommen übrigens auch der mit Staudenmaier befreundete deutsche Steiner-Experte Helmut Zander tätigen Anteil hatte, versucht eine personelle und ideologische Verflechtung von Anthroposophie und Nationalsozialismus zu belegen.
Uwe Werner, dem es nicht um billige Apologetik oder Gegnerabwehr geht, stellt dagegen prägnante Aussagen Rudolf Steiners in den Mittelpunkt seiner Betrachtung, die diesen eindeutig als Verfechter von Humanismus und Demokratie ausweisen. Äußerungen, die den meisten Kritikern entweder unbekannt sind oder die sie bewusst unterschlagen. In seiner Einleitung wirft Werner ein Schlaglicht auf die gegenwärtige Diskussion um Steiner und beleuchtet den Verlauf der Rassismusforschung bis heute, bezieht auch jüngste Ergebnisse der DNA-Forschung zum sogenannten genetischen Fingerabdruck mit ein. Im ersten Teil seiner Studie vergleicht er Steiners Auffassung von Rassen mit dem völkisch-rassistischem Denken. Er untersucht die Begriffe »Rasse« und »Individuum« in Steiners schriftlichen Grundwerken, deckt »Begegnungskonstrukte« auf (manche Autoren behaupten, Hitler und andere führende Nazis hätten wichtige Begegnungen mit Steiner gehabt), analysiert Steiners Position im Weltkrieg und in der Dreigliederungsbewegung und weist auf biographische Momente der letzten Lebensjahre hin (Steiners Reaktion auf den Hitlerputsch 1923 usw.). Werner polemisiert nicht, er lässt die Dokumente für sich sprechen. Er stellt aber auch exemplarisch dar, wie polemische Steinerkritiker bisher mit Zitaten umgingen, indem sie in dem Bestreben, Steiner als Rassisten zu diffamieren, historische Dokumente so lange entstellten und zurechtbogen, bis aus ihnen das Gegenteil ihrer ursprünglichen Aussage hervorging. Diese entstellten Zitate fanden dann Eingang in wissenschaftliche Literatur.
In diesem Zusammenhang bescheinigt Werner auch Helmut Zander unseriöses Verhalten, denn dieser habe 2007 ein Schriftstück mit solchen entstellten Zitaten unaufgefordert an eine deutsche Behörde geschickt, die Steinerschriften auf rassistische Stellen überprüfen sollte. Im zweiten Teil erörtert Werner, ausgehend von dem schillernden Begriff »Deutschtum«, der von Rassisten anders interpretiert wurde als von Steiner, folgende spannende Fragen: Wie schätzten Anthroposophen Hitler und den Nationalsozialismus ein, und: Wie schätzten Nationalsozialisten Steiner und die Anthroposophie ein? Dazu bietet Werner eine Fülle von teilweise unbekannten Dokumenten, aus denen bilanziert werden kann, dass »braune Anthroposophen« sowohl vor als auch nach 1945 eher unbedeutende Einzelfälle waren, die auf die anthroposophische Bewegung keinen Einfluss hatten. Steiner war weit entfernt von der Forderung, alle Menschen müssten Anthroposophen werden. Aber er erwartete zumindest eine gründliche Prüfung seiner Ideen. Studien wie diejenige Werners tragen dazu bei, eine solche Prüfung zu erleichtern. Nachdrücklich weist er darauf hin, dass Anthroposophie im Kern keine abstrakte Theorie, sondern reales spirituelles Leben ist. Wer es grundsätzlich ablehnt, sich irgendwie auf dieses Leben einzulassen, wird auch die Erfolgsgeschichte der anthroposophischen Bewegung nicht verstehen. Werners Ausführungen sind ein Musterbeispiel für einen sachbezogenen und fairen Umgang mit Kritikern. Wer als wacher Zeitgenosse Anthroposophie in der Öffentlichkeit vertreten will, sollte sich diese Studie nicht entgehen lassen.
Werners Studie ist ein überarbeiteter Separatdruck eines Beitrags zu dem historiographischen Sammelband: Rahel Uhlenhoff (Hrsg.): Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart, Dornach 2011.
Zuerst erschienen in: Zeitschrift DieDrei, Juli 2011