Verlag Urachhaus. Stuttgart 2021.
Was waren die Hintergründe des Verbots der Christengemeinschaft 1941 durch das NS-Regime? In dieser grundlegenden Darstellung der Geschichte der Christengemeinschaft und ihrer Auseinandersetzung mit der Nazi-Ideologie wird erstmalig ein großer Teil des dezentral archivierten und daher bisher kaum verfügbaren Materials zusammengetragen und zugänglich gemacht: Korrespondenzen, Biographien, Lebenserinnerungen und Chroniken – u.a. auch die für das Thema relevante Teile der internen Kommunikation in der Christengemeinschaft, auf die bisher nur deren Priester Zugriff hatten.
Der Autor zögert nicht, relevanten Fragestellungen nachzugehen, wie etwa: Stimmt es, dass die Christengemeinschaft „naziverfolgt" gewesen ist? Einerseits wurde sie 1941 verboten und führende Priester inhaftiert.Aber belegt dies schon eine Gegnerschaft gegenüber dem Nazi-Regime oder handelte es sich eher um ein Lavieren mit dem Ziel, das eigene Überleben zu sichern?
Auch auf weitere sensible Fragen geht Hörtreiter ein: Wie verhielten sich generell Gemeindemitglieder gegenüber den jüdischen bzw. den verfolgten Menschen? Wie positionierten sich die Priester in dieser Konfliktsituation? Gab es unterschiedliche Einstellungen innerhalb der geweihten Priester und ihren Gemeindemitgliedern?
Die Ausführungen beginnen mit einem Blick auf die Persönlichkeit Friedrich Rittelmeyers, der bis zu seinem Tode 1938 die zentrale Leitfigur der Christengemeinschaft war. Untersucht wird sein Verhältnis zum Nationalsozialismus, zum deutschen Idealismus, seine soziale Wirkung auf die Priesterschaft sowie sein politisches Handeln gegenüber dem NS-Regime.
Im weiteren Verlauf wird das Verhalten der Priesterschaft und der Mitglieder sowie die Frage nach der Nähe und der Unterscheidung zum NS-Regime behandelt. Das Ergebnis schafft ein differenziertes Bild. Unter den Gemeindegliedern gab es zahlreiche Personen, die mit dem Nationalsozialismus sympathisierten. Davon hatten einige wenige einflussreiche Stellungen oder gute Kontakte zu den Machthabern. Bekannt sind drei Personen, die ihre Kontakte bemühten, um ein Verbot der Christengemeinschaft abzuwenden. In einem Kapitel werden Anstrengungen geschildert, jüdische Gemeindeglieder vor der Vernichtung zu retten, indem man sie nach England schleuste.
Unter den bis 1945 weltweit ca. 100 geweihten Priestern gab es einen, der bei den Nationalsozialisten aktiv wurde: Der Holländer Jan Eekhof. Johannes Werner Klein, ebenfalls Nazi-Sympatisant, hatte sich bereits 1929, also noch vor der Machtergreifung Hitlers, von der Christengemeinschaft abgewandt.
Ein weiteres Kapitel befasst sich mit zwei Nationalsozialisten, die nach 1945 Priester der Christengemeinschaft wurden: der spätere „Erzoberlenker“ Friedrich Benesch und der Priester Werner Georg Haverbeck. Beide verschleierten ihre nationalsozialistische Vergangenheit und wurden nicht damit konfrontiert. Haverbeck wurde 1960 seines Priesteramtes enthoben. Benesch blieb bis zu seinem Lebensende Priester der Christengemeinschaft. Nach Beneschs Tod entzündete sich eine Kontroverse über die Frage, ob er auch nach 1945 nationalsozialistisches Ideengut verwendet hatte.
Die Untersuchung hat zugleich eine methodische Schwäche und Stärke: die Nähe des Autors – selber Priester der Christengemeinschaft – zu seinem Untersuchungsgestand. Eine durch die persönliche Nähe bedingte parteiische Vereinnahmung des Gegenstands ist nicht zu erkennen. Und gerade diese Nähe ermöglichte es, bisher unzugängliches Material nun zu erschließen.
Fazit: Indem für die Christengemeinschaft auch unangenehme Perspektiven auf die eigene Geschichte kritisch untersucht und angesprochen werden, trägt Hörtreiters Buch durch den unbefangenen Blick auf die eigene Bewegung zu einer konstruktiven Kritik an der Anthroposophie im Nationalsozialismus bei.
Hörtreiter, Frank. Die Christengemeinschaft im Nationalsozialismus. Verlag Urachhaus. Stuttgart 2021.
>> Zeitschrift Antroposophie, Juni 2023
>> Zeitschrift für Religion und Weltanschauung (ZRW)
>> Wochenschrift Das Goetheanum
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