Im Werk Rudolf Steiners finden sich zwei Rassenbegriffe: Der traditionelle anthropologische Begriff, der sich auf physische Erscheinungsformen der Menschheit bezieht, und zeitweise der aus der theosophischen Literatur stammende Begriff der «Wurzelrasse», der sich auf zeitliche Phasen langer Evolutionszyklen bezieht. Letzteren verwendete Steiner in den Anfängen seiner theosophischen Zeit ab 1904 in der Zeitschrift Lucifer Gnosis, um sich dann 1906 in Heft 32 derselben Zeitschrift vom theosophischen Gebrauch des Begriffs der Wurzelrasse zu distanzieren.[1] «Rassen» habe es in der frühen Zeit der menschlichen Evolution auf der Erde nicht gegeben, sie seien erst in bestimmten Zeiträumen entstanden und würden sich in der Zukunft wieder auflösen. Aufgrund seiner eingeschränkten Gültigkeit könne der Begriff nicht allgemein für die Evolutionsphasen der Menschheit verwendet werden. 1909 bezeichnet Steiner in Vorträgen den Begriff der Wurzel- oder Hauptrasse als «Kinderkrankheit» der theosophischen Bewegung, man müsse sich darüber klar sein, «dass der Rassenbegriff aufhört eine jegliche Bedeutung zu haben gerade in unserer Zeit».[2]
In Rudolf Steiners Schriften und Vorträgen finden sich in bestimmten Zusammenhängen Ausführungen über Völker und «Rassen» sowie Bezeichnungen wie «Neger», «Wilde», «Hottentotten», die im Rahmen seinerzeit gängiger Diskurse formuliert wurden und heute zum Teil als diskriminierend verstanden werden. Inzwischen hat sich nicht nur der wissenschaftliche Begriff der «Rasse» verändert, es gelten – auch vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen des weiteren 20. Jahrhunderts – systematische Herabsetzungen und Verleumdungen der Angehörigen einer Ethnie oder Religion, besonders wenn sie im Zusammenhang mit öffentlichem Aufruf zu Hass und Diskriminierung auftreten, als Straftatbestand. Infolge öffentlicher Kritik in den 1990er-Jahren hat eine Untersuchungskommission unter Leitung des Juristen Ted van Baarda im Auftrag der Anthroposophischen Gesellschaft in den Niederlanden den Rassismusvorwurf gegenüber Rudolf Steiner verhandelt und eine ausführliche juristische Studie zu allen diesbezüglichen Äußerungen erarbeitet.[3] Untersucht wurde dabei, inwieweit entsprechende Äußerungen Steiners nach gegenwärtigen rechtlichen Maßstäben als diskriminierend aufzufassen sind, wenn sie heute als Standpunkt vertreten oder verbreitet werden. Viele diesbezügliche Stellen wurden als unbedenklich, eine weitere Gruppe als missverständlich oder allenfalls leicht diskriminierend beurteilt. Sechzehn Stellen wurden vom niederländischen Schlussbericht als Wortlaute mit diskriminierender Wirkung eingestuft. Diese und ähnliche Passagen werden in den betreffenden Bänden in der Gesamtausgabe erläutert. Dazu dienen der vorliegende Sonderhinweis und stellenweise zusätzliche Kommentare.
Die Tätigkeit der Rudolf Steiner Nachlassverwaltung und des Rudolf Steiner Verlags ist editorisch und nicht interpretierend ausgerichtet. Das Werk Rudolf Steiners wird in der Gesamtausgabe so vollständig und authentisch wie möglich wiedergegeben und enthält daher naturgemäß kontrovers deutbare Passagen und Formulierungen. Die Anmerkungen der Herausgeber beschränken sich gewöhnlich auf philologische Hinweise und historische Sachverhalte ohne inhaltliche Kommentierung oder Interpretation der Texte. Eigentliche Forschungsdiskussionen sind außerhalb der Gesamtausgabe zu führen.[4]
Rudolf Steiners veröffentlichtes Werk besteht aus über Jahrzehnte hinweg entstandenen verschiedenen Schriften und vom Autor nicht redigierten Mitschriften von Vorträgen, die vor unterschiedlichem Publikum, sowohl im internen Kreis als auch öffentlich, gehalten wurden. Das Kernanliegen seiner Philosophie und Anthroposophie ist in Theorie und Praxis die emanzipatorische Entwicklung des freien, selbstbestimmten Individuums auf seinem Erkenntnisweg, ungeachtet aller ethnischen und sonstigen Prägungen. Im Gesellschaftlichen vertrat Rudolf Steiner das Prinzip der Brüderlichkeit. Insgesamt enthält sein Werk keine Lehre, aus der sich Rassismus ableiten ließe. Wie jedes Werk ist es jedoch nicht vor Missbrauch, sei es durch Anhänger oder Gegner, geschützt. Nirgends hat Steiner in seinen Schriften oder Vorträgen zu Hass oder Diskriminierung gegen bestimmte Gruppen aufgerufen. Im Gegenteil hat er immer wieder gegen rassische, ethnische, nationalistische oder geschlechtliche Diskriminierung scharf Stellung genommen, was bei der Lektüre von Äußerungen über Kulturen, «Rassen» und Völker im Bewusstsein gehalten werden sollte.
Die Rudolf Steiner Nachlassverwaltung als herausgebende und der Rudolf Steiner Verlag als veröffentlichende Institution distanzieren sich von jeglichen Äußerungen, die zum Hass gegen Einzelne oder Gruppen aufrufen oder sich in feindseliger und diskriminierender Art gegen Menschen aufgrund ihrer «Rasse», ethnischen Herkunft, Weltanschauung etc. richten. Sie lehnen im Besonderen jede Verwendung von Zitaten Rudolf Steiners zu diesen Zwecken ab.
Rudolf Steiner Nachlassverwaltung, Stiftung zur Erhaltung, Erforschung und Veröffentlichung des wissenschaftlichen und künstlerischen Nachlasses von Rudolf Steiner, Dornach
Rudolf Steiner Verlag AG, Basel
April 2016
[1] Die fortlaufenden Zeitschriftenbeiträge wurden später unter dem Titel Aus der Akasha-Chronik zusammengefasst, siehe den gleichnamigen Band der Gesamtausgabe, GA 11, der Beitrag von 1906 mit der Kritik am Begriff der Wurzelrasse darin als Kapitel «Das Leben der Erde».
[2] Vortrag vom 4.12.1909 in München, in: Die tieferen Geheimnisse des Menschheitswerdens im Lichte der Evangelien, GA 117, Dornach 1986, S. 152. Ähnlich viele weitere Äußerungen in Vorträgen dieser und späterer Jahre.
[3]Antroposofie en het vraagstuk van de rassen, Eindrapport van de commissie Antroposofie en het vraagstuk van de rassen, Antroposofische Vereniging in Nederland, Zeist 2000; autorisierte deutsche Übersetzung des Zwischenberichts: Anthroposophie und die Rassismus-Vorwürfe: Der Bericht der niederländischen Untersuchungskommission «Anthroposophie und die Frage der Rassen», mit einem Rechtsgutachten von Ingo Krampen «Rassendiskriminierung nach deutschem Recht», Frankfurt a.M. 1998, 5. Auflage, 2009.
[4] Zum Thema etwaiger rassistischer und antisemitischer Inhalte bei Rudolf Steiner siehe Ralf Sonnenbergs abwägende Zusammenfassung der Diskussion mit einer Kurzbibliografie, in: Ralf Sonnenberg (Hg.), Anthroposophie und Judentum: Perspektiven einer Beziehung, Frankfurt a.M. 2009, S. 53–63.