Das deutsche Dogma und das deutsche Schwert
Zum Pangermanismus-Vorwurf gegen Rudolf Steiner. Dieser Artikel ist zuerst erschienen in der Zeitschrift "DieDrei", Ausgabe März/April 2021.
Wer sich heute zu gewissen, von Rudolf Steiner verwendeten Begriffen wie »Mitteleuropa«, »deutscher Geist« oder »Volksseele« anders als kritisch verhält, gerät schnell in den Verdacht, mit völkischen oder rechtspopulistischen Kreisen zu sympathisieren. Zu den unermüdlichen Fahndern nach solchen – heutzutage mehr oder weniger obsoleten – Begriffen gehören die Wortführer der sogenannten Skeptikerbewegung, deren Ursprung und Methoden Georg Soldner 2019 treffend darstellte. Die »Skeptiker« berufen sich dabei auf Wissenschaftler wie Helmut Zander, der Steiner als überzeugten Nationalisten bezeichnet, weil er das deutsche Vorgehen im Ersten Weltkrieg verteidigt habe,[1] oder den US-Historiker Peter Staudenmaier, der behauptet, schon der junge Steiner habe eine »pan-German nationalist period« in Verbindung mit Antisemitismus durchgemacht.[2] Der gegen Steiner erhobene Pangermanismus-Vorwurf ist indes nicht neu. Er wurde schon vor und während des Ersten Weltkriegs von englischen, belgischen und französischen Theosophen gegen Steiner und seine Anhänger erhoben. Die damals verbreiteten Anschuldigungen waren de facto ein Verschwörungsmythos, der besagte: Rudolf Steiner und seine Anhänger hätten beabsichtigt, die Theosophische Gesellschaft unter ihre Kontrolle zu bringen und im Sinne einer deutschen Weltherrschaft zu instrumentalisieren. Davon soll im Folgenden die Rede sein.
Henry Steel Olcott, Präsident der Theosophischen Gesellschaft bis zu seinem Tod im Jahre 1907, tolerierte Steiners Selbstständigkeit. Unter seiner Nachfolgerin Annie Besant änderte sich dies. Steiner wurde nun zunehmend als Konkurrent betrachtet, da er sogar außerhalb Deutschlands Anhänger gewinnen konnte. Dass man mit der selbstständigen Haltung Steiners nicht einverstanden war, soll schon 1907 auf dem Münchner Kongress deutlich geworden sein, indem sich die anwesende Besant und andere englische Mitglieder »reserviert« verhielten.[3] Trotz einiger von der offiziellen Lehrmeinung abweichender Ansichten, z.B. in der Christusfrage, war Steiner aber bis zuletzt gegen eine organisatorische Abspaltung.
Objektive Unwahrheiten
Die akademische Steinerforschung sieht in dem Konflikt zwischen Besant und Steiner in erster Linie einen verbandsinternen Machtpoker, der 1913 mit dem Ausschluss der von Steiner geführten Deutschen Sektion endete. Dabei erscheint Steiner eher in der Täterrolle, der die Abspaltung mutwillig herbeigeführt habe. Die geistigen Ursachen dieser Trennungsgeschichte werden zugunsten des »Machtkampfes« marginalisiert und Steiners Christozentrismus wird vorwiegend strategisch gedeutet: Weil er gewusst habe, dass er in Europa mehr Anhänger gewinnen könnte, wenn er seine Theosophie christlich färbte, habe Steiner ein esoterisches Christentum propagiert.[4] Damit wird im Grunde die Sicht der anglo-indischen Theosophen übernommen.
Am 21. Dezember 1912 etwa bezeichnete der hochrangige indische Theosoph Khan Bahadur N.D. Khandalavala in einem Brief an Steiner dessen Anhänger als aggressiv.[5] Khandalavala bezog sich dabei auf die Zusammenkünfte des 1911 gegründeten ›Bundes‹, einer Vorläufer-Organisation der Anthroposophischen Gesellschaft. Über die Münchner ›Bund‹-Versammlungen liegen mehrere Berichte vor. Zunächst erschien auf Englisch ein nicht namentlich gezeichneter, von Prof. Dr. Otto Schrader verfasster Artikel im ›Theosophist‹ vom Dezember 1912. Dieser verkürzte und entstellende Bericht war ohne Genehmigung der Deutschen Sektion von Annie Besant publiziert worden. Mathil - de Scholl protestierte in einem Brief vom 14. Januar 1913 an den Herausgeber der theosophischen Zeitschrift ›The Vahan‹, weil dieser Irrtümer aus besagtem Artikel übernommen habe.[6] Ein wesentlich umfangreicherer Bericht ist noch unveröffentlicht.[7]
Khandalavala, der das Treffen eine Kriegserklärung gegen Besant und die Theosophische Gesellschaft nannte, warf Steiner vor, seine Schüler nicht mehr unter Kontrolle zu haben. Als Beleg zitiert er Aussprüche des evangelischen Pfarrers Paul Klein.[8] Dieser habe gesagt, die Wahrheit müsse »im Einklang mit dem rosenkreuzerischen Geist« verbreitet werden, und: »Wir denken nicht im Traum daran, uns auf Deutschland zu beschränken, wir beanspruchen die ganze Welt für rosenkreuzerisches Christentum.« Ein weiteres Indiz für Steiners Machtstreben sieht Khandalavala darin, dass Sprecher des ›Bundes‹ sagten, vor 1914 solle keine Trennung erfolgen. Die Deutsche Sektion wolle offensichtlich abwarten, um zu sehen, ob Steiner Chancen hätte, Präsident der Theosophischen Gesellschaft zu werden. »Unsere Brüder, die deutschen Mitglieder, möchten alle Mitglieder der T[heosophischen]G[esellschaft] in die Gemeinde des kosmischen Christus ziehen; und Pfarrer Klein hat gesagt: Es genügt nicht, ständig von Toleranz und Nächstenliebe zu reden; der Christus selbst hat gesagt, ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern ein Schwert.« Khandalavala fügt hinzu: »Es ist das deutsche Dogma und das deutsche Schwert, die über die Universelle Bruderschaft der TG gebracht werden.«[9]
Infolge der »Alcyone-Affäre« (1911-1913) um den jungen Jiddu Krishnamurti kam es schließlich zum Bruch wobei sich auch prominente Nichtdeutsche wie Edouard Schuré der neu gegründeten Anthroposophischen Gesellschaft anschlossen. Schuré erklärte 1913 in einem offenen Brief an den französischen Generalsekretär Charles Blech seinen Austritt aus der Theosophischen Gesellschaft. Der Maler Fidus (=Hugo Höppener), Mitglied der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft, sagte auf der Berliner Generalversammlung vom 2. Februar 1913, er begrüße die Abtrennung der Anthroposophen: »Ich freue mich über die Erstarkung deutscher Art.«[10] Der nationale Geist sei so wichtig wie das allgemein Religiöse. Im Sitzungsprotokoll werden Fidus’ Worte so wiedergegeben: »Die deutsche Bewegung darf sich nicht mehr vom Osten gängeln lassen.« Sofort entgegnete Steiner, um mögliche Missverständnisse auszuräumen:
Gegen uns wird alles ausgenutzt. Schon jetzt fängt es, gestützt auf die objektiven Unwahrheiten von Mrs. Besant, in Europa an. Der belgische Generalsekretär [Jean Delville] hat schon tüchtig angefangen, denn er spricht von einer »pangermanistischen Bewegung«. Es handelt sich um eine ganz allgemein menschliche Bewegung, der jeder angehören kann, ohne Unterschied der Rassen […]. Der Geist des Allgemein-Menschlichen kennt keinen Unterschied von Rasse, Religion, Volk und Nation, der zur Sonderung im Höchsten führen müßte.[11]
Steiner bezog sich mit den »objektiven Unwahrheiten« auf verschwörungstheoretische Äußerungen Besants im ›Theosophist‹ vom Januar 1913, in denen sie behauptete, die Jesuiten würden zur Zeit verstärkt Deutschland unterwandern.[12]
Tummelplatz für deutsche Spione
Nach Kriegsausbruch begann Besant im ›Theosophist‹ unverhohlen deutschfeindliche Artikel zu publizieren: Überdies sehen wir, wie das Kaiserreich seine Theorien von Raub, Mord und Plünderung in Belgien durchführte.[13] Das auserwählte Volk Gottes wurde für das übrige Europa zum üblen Gestank. Für diesen Embryo von einem Kaiserreich, der in grundloser Tiefe erzeugt, in Haß empfangen und im Mutterleibe des Ehrgeizes behütet wurde, darf niemals die Geburtsstunde kommen. Dieses Reich ist der Träger eines neuen Barbarismus, es stellt sich in Widerspruch zu allem, was edel, barmherzig und menschlich ist. – Der Krieg, den Deutschland auf dem Wege zu seinem Ziele, dem allmächtigen Kaiserreich, her aufbeschwor, wird seinen Militarismus zerschmettern, sein Volk freimachen und ein Vorbote des großen Friedensreiches sein.[14]
Wenig später identifizierte Annie Besant die Haltung Steiners mit dem deutschen Militarismus:
Wenn ich jetzt zurückblicke, angesichts der deutschen Methoden, wie der Krieg sie uns offenbart, erkenne ich, daß die langandauernden Bemühungen, die theosophische Organisation einzufangen und einen Deutschen an ihre Spitze zu setzen – der Zorn gegen mich, als ich diese Bemühungen vereitelte –, die Klage, daß ich über den verstorbenen König Eduard VII. als den Beschützer des europäischen Friedens gesprochen habe, statt dem Kaiser [Wilhelm II.] die Ehre zu geben –, daß all dies ein Teil war der weit ausgebreiteten Kampagne gegen England, und daß die Missionare Werkzeuge waren, geschickt benutzt durch die deutschen Agenten hier in Indien, um ihre Pläne durchzusetzen. Wenn sie die Theosophische Gesellschaft in Indien hätten verwandeln können mit ihrer großen Zahl von Verwaltungsbeamten in eine Waffe gegen die britische Regierung und sie hätten dazu erziehen können, emporzuschauen zu Deutschland als zu ihrer geistigen Führungsmacht – statt einzustehen, wie sie es immer getan hat, für den gleichwertigen Bund zweier freier Nationen, so hätte sie allmählich ein Kanal für Gift in Indien werden können.[15]
1916 erklärte Besant dann, der jüngst verstorbene Wilhelm Hübbe-Schleiden habe die Gesellschaft zusammengehalten, als Dr. Rudolf Steiner alle seine Anhänger herauszog, nachdem es ihm nicht gelungen war, mich aus der Präsidentschaft zu vertreiben, um sie einzudeutschen [in order to germanize it] und zu einem Werkzeug des Kaisers gegen England und Indien zu machen. […] Mit Dr. Steiner als Präsident in Adyar wären unsere gut 340 Logen in Indien, von jenen in aller Welt gar nicht zu reden, ein brauchbarer Tummelplatz für deutsche Spione geworden. Als der Krieg ausbrach und die deutschen Methoden zutage traten, war ich froh, daß ich […] in der Lage gewesen war, dem Empire diesen kleinen Dienst zu leisten.[16]
Auf diese Behauptungen, Steiner habe die Theosophische Weltgesellschaft übernehmen und ihr indisches Hauptquartier für den deutschen Imperialismus instrumentalisieren wollen, entgegnete dieser in seinem Vortrag vom 25. Februar 1915, tatsächlich habe die »absurd« gewordene Theosophische Gesellschaft es notwendig gemacht, sich 1913 von ihr zu trennen – »aus unserem Wahrheitsgefühl heraus«.[17] Nie habe er Deutschland verlassen wollen, um etwa nach Indien zu gehen.
Teutonische Plattform
Auch der mit Steiner verbundene, französisch sozialisierte Elsässer Edouard Schuré hatte schon 1909 dem Deutschen Reich Weltherrschaftspläne unterstellt: »Deutschland übt zur Zeit eine Art politische Hegemonie in Europa aus. [Immer noch] unzufrieden mit diesem Vorrang erwarten die Pangermanisten ungeduldig, daß ihre Rasse und ihre Heimat die Weltherrschaft erringe.«[18] Von der allgemeinen Kriegspropaganda beeinflusst, sprach Schuré dann schon 1914 in seinem Tagebuch den Verdacht aus: »Abweichung Steiners: ein mystischer Pangermanist«[19]. Diesen Verdacht sah er bestätigt, nachdem er Steiners 1915 erschienene Broschüre ›Gedanken während der Zeit des Krieges‹[20] gelesen hatte. 1916 schrieb er einen langen Brief an Marie Steiner, in dem er sie beschuldigte, als politische Agentin im Sinne alldeutscher Bestrebungen tätig gewesen zu sein, weshalb er sie »mit außerordentlichem Raffinement« zu einem »Werkzeug des Deutschtums im Elsaß« habe machen wollen. Rudolf Steiner machte er den Vorwurf, dass dessen Lehren »von einer gesamteuropäischen und universellen Haltung […] auf die teutonische Plattform« herabgestiegen seien, und erklärte, dass er daher aus einer Gesellschaft austreten müsse, die »das Ziel einer allgemeinen Germanisierung« verfolge.[21]
Steiners Kriegsbroschüre wird bis heute kontrovers bewertet. Der Historiker Markus Osterrieder hebt die Intention Steiners hervor, mit dieser unpolitisch gemeinten Schrift der alliierten Propaganda zu begegnen, die das Wesen Deutschlands als Barbarentum bezeichnete. Nach den heute üblichen Urteilskriterien könne Steiners Schrift allerdings leicht als ebensolche Propaganda missverstanden werden.[22] Der Religionswissenschaftler Ansgar Martins nennt sie denn auch eine »aggressiv-nationalistische Schrift« – ohne dies näher zu belegen.[23]
Am 4. September 1916 reagierte Steiner zunächst nur kurz und ironisch auf Schurés Vorwürfe,[24] ehe er am 16. September erklärte: »Ungefähr in demselben Vierteljahr wurde ich von der einen Seite her als ein wütender Pangermanist bezeichnet, und von der anderen Seite her wurde gesagt, daß ich nichts verstünde von wahrem Deutschtum und eigentlich nur romanisches Wesen in mir als Kräfte fühle und nur romanisches Wesen verstehen könnte.« [25] Am 15. Januar 1917 betonte er: »Wir versuchten, diesen urdeutschen Zug des Kosmopolitismus in der peinlichsten Weise zu wahren.« Gerade das habe ausgerechnet Schuré, den ein Lexikon als »Vermittler deutscher Geisteskultur nach Frankreich« bezeichnet habe, als »pangermanis tisch« ausgelegt: »Man ist also dann Pangermanist, wenn man nicht so redet wie der französische Chauvinist Schuré es haben will, man ist dann deutscher Agent, wenn man nicht so redet, wie Mrs. Besant es haben will.«[26] Rückblickend, so Osterrieder, deutete Steiner den Ausschluss der Deutschen Sektion als »symptomatisches Wetterleuchten«[27] des heraufziehenden Krieges.
Im Gegenzug wies Steiner in seinen zeitgeschichtlichen Betrachtungen ausführlich auf den Einfluss britischer Geheimgesellschaften auf die Politik hin. Sein enger Mitarbeiter Carl Unger fasste diese Sicht der Dinge 1921 wie folgt zusammen: »Es lag aber in den Zielen der eigentlichen westlichen Geheimgesellschaften, das deutsche Gebiet geistig von England aus zu kolonisieren, um das mitteleuropäische Geistesleben unter die Macht der britischen Geheimgesellschaften zu bringen […] Mit einer gewissen Selbstverständlichkeit geriet die Theosophische Gesellschaft in dieses Fahrwasser.« Gegen den »Unfug und Schwindel« der Proklamation von Krishnamurti als neuer Weltheiland »lehnte sich die mitteleuropäische Bewegung mit einmütiger Entschiedenheit auf. Und dies wurde dann zum Anlaß genommen, um eine organisatorische Unterdrückung der mitteleuropäischen Bewegung zu versuchen. Annie Besant verleumdete Rudolf Steiner als Jesuiten-Zögling, andere behaupteten, er verfolge pangermanistische Tendenzen usw.«[28]
Deutschenhass und Kriegsfieber
Die Auseinandersetzung mit dem Pangermanismus-Vorwurf war mit dem Weltkrieg nicht beendet. Am 14. November 1919 zitierte Steiner aus Aimée Blechs Besant-Biografie die Worte: Es ist sicher, daß die Trennung von Steiner ein Segen war. Der Okkultist war außerdem noch ein gefährlicher Pangermanist [un pangermaniste dangereux]. Nehmen wir an, er wäre Präsident der Theosophischen Gesellschaft, geworden: Er hätte noch ganz andere Wirkungsmöglichkeiten gehabt und Einfluß ausüben können in fast allen Ländern der Erde. Er hätte die Autorität gehabt, seine pangermanistische Politik ganz frei zu verfolgen und hätte es aller Wahrscheinlichkeit nach auch getan.[29]
Aimée Blech bezeichnete Steiner als Störenfried, der durch die »Abspaltung« der Deutschen Sektion die bisher schwerste Krise in der TG ausgelöst habe. Seine »germanisierte« Theosophie sei für einen französischen Geist eher nebulös gewesen, ohne Präzision und Klarheit, habe aber gut zu den Deutschen gepasst. Steiner habe ja selbst gesagt, eine Theosophie indischer oder englischer Herkunft sei für Deutsche nicht geeignet.[30]
Zuletzt kam Steiner in Stuttgart in seinem Vortrag vom 25. Mai 1921, in dem auch einige seiner völkischen Gegner anwesend waren, noch einmal auf diese Vorwürfe zurück:
Glauben Sie, es war ein Leichtes, während der ganzen Zeit von den Franzosen, von den Engländern als Pangermanist, das heißt als Alldeutscher verschrieen zu werden? Das ist nämlich mir passiert: Jenseits der Grenze bin ich Alldeutscher, innerhalb Deutschlands bin ich bei den Alldeutschen und ihren Gesinnungsgenossen ein Feind, ein Verräter des Deutschtums.[31]
Und 1933 schrieb Marie Steiner rückblickend über Schuré:
Rudolf Steiners Buch […], welches in ganz unpolitischer Weise die positiven Seiten des Deutschtums in schönes Licht stellte, erregte die chauvinistische Rage des Franzose gewordenen Elsäßers Schuré, an dem der Makel haftete, einst enthusiastische Bücher geschrieben zu haben über das deutsche Lied, über Wagner, dessen Freund und gelegentlicher Hausgast er in seiner Jugend gewesen ist. Vom Deutschenhaß und Kriegsfieber nun gepackt, lag ihm daran, sich von allen Sympathien, die er für den deutschen Geist und deutsche Menschen einst gehabt hatte, rein zu waschen, und er scheute sich nicht, einen wütenden Angriff auf den Pangermanisten Rudolf Steiner loszulassen, zu behaupten, daß man ihn, Schuré, für das Deutschtum hätte einfangen wollen. Die Zeitungen bemächtigten sich schnell auch dieser Ergüsse. In Deutschland aber wird Rudolf Steiner als Freund Frankreichs hingestellt, der gegen Deutschland arbeitet.[32]
Schuré, der unter seinem Bruch mit Steiner sehr litt, bereute übrigens später seinen Chauvinismus, besuchte 1922 seinen alten Freund in Dornach und versöhnte sich mit ihm.[33]
Wolfgang G. Vögele, geb. 1948 in Mannheim, Studium der Geschichte und Soziologie in Heidelberg, Waldorflehrer in Österreich, Mitarbeit am Rudolf Steiner Archiv Dornach, freier Journalist (u.a. für die Nachrichtenagentur NNA), seit 1998 Publikationen zur Biographie Rudolf Steiners.
[1] Vgl. Helmut Zander: ›Die Anthroposophie‹, Paderborn 2019, S. 175.
[2] Peter Staudenmaier: ›Rudolf Steiner and the Jewish Question‹, in: ›Leo Baeck Institute Yearbook‹ Vol. 50/1 (January 2005), S. 129.
[3] August Wilhelm Sellin: ›Anthroposophische Betrachtungen‹, München 21918, S. 76. Der sich bis 1913 steigernde Konflikt ist von anthroposophischer Seite gut dokumentiert. Vgl. Rudolf Steiner: ›Zur Geschichte der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft 1902-1913‹ (GA 250), Dornach 2020.
[4] Vgl. Helmut Zander: op. cit., S. 222.
[5] Vgl. ›General Report of the Thirty-Seventh Anniversary & Convention of the Theosophical Society Held at Adyar December 26th to 31st, 1912‹, Adyar 1913, S. 260ff. – https://archive.org/details/GeneralReport1912/page/n259/mode/2up
[6] Vgl. Mathilde Scholl (Hrsg.): ›Mitteilungen für die Mitglieder der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft (November 1905 – Januar 1913) und für die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft (März 1912 – Juni 1914)‹, unveränderter Nachdruck, Dornach 1999, S. 270ff.
[7] Cod. MS W. Hübbe-Schleiden 958, Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen.
[8] Vgl. Wolfgang G. Vögele: ›Paul Klein‹, in Bodo v. Plato (Hrsg.): ›Anthroposophie im 20. Jahrhundert‹, Dornach 2003, S. 372f.
[9] Klein zitierte hier Mt 10,34. Nach Franz Alt lautet die korrekte Übersetzung aus dem Aramäischen: »Ich bin nicht gekommen, Harmonie zu verbreiten, sondern Streitgespräche zu führen.« – Vgl. Franz Alt: ›Der Jesus-Krimi‹ – https://www.sonnenseite.com/de/franz-alt/kommentare-interviews/der-jesus-krimi/
[10] Norbert Klatt: ›Theosophie und Anthroposophie‹, Göttingen 1993, S. 247f.
[11] Mathilde Scholl (Hrsg.): op. cit., S. 307f. – Den belgischen Generalsekretär Jean Delville und »seine objektiv völlig unwahren Konsequenzen« erwähnt Steiner schon in seiner Ansprache in Berlin vom 2. Februar 1913. – Vgl. a.a.O., S. 303. Delville (1867–1953) war symbolistischer Maler, Schriftsteller, Okkultist, Freimaurer und Theosoph. Seit 1884 war er mit Edouard Schuré bekannt, der ihm das Vorwort zu seiner Schrift über idealistische Kunst schrieb (›La Mission de l’Art‹, Brüssel 1900). Delville beteiligte sich um 1897 an Ausstellungen des von Joséphin Péladan gegründeten ›Salon Rose+Croix‹ in Paris. Er war der erste Generalsekretär der belgischen Sektion der Theosophischen Gesellschaft (1911-1913) und nationaler Repräsentant des ›Ordens des Sterns im Osten‹, der Jiddu Krishnamurti als neuen Messias propagierte. Zahlreiche seiner monumentalen Werke befinden sich in öffentlichen Gebäuden Brüssels.
[12] Vgl. Markus Osterrieder: ›Welt im Umbruch. Nationalitätenfrage, Ordnungspläne und Rudolf Steiners Haltung im Ersten Weltkrieg‹, Stuttgart 2014.
[13] Vgl. John Horne & Alan Kramer: ›Deutsche Kriegsgreuel 1914. Die umstrittene Wahrheit‹, Hamburg 2004.
[14] [Annie Besant]: ›On the Watch Tower‹, in: ›The Theosophist‹ Vol. 36/2 (Nov. 1914), S. 102f, zitiert nach August Wilhelm Sellin: op. cit., S. 79f.
[15] [Annie Besant]: ›On the Watch Tower‹, in: ›The Theosophist‹ Vol. 36/3 (Dez. 1914), S. 195f., zitiert nach Markus Osterrieder: ›Welt im Umbruch‹, S. 950f.
[16] [Annie Besant]: ›On the Watch Tower‹, in: ›The Theosophist‹ Vol. 37/11 (August 1916), S. 465, zitiert nach Markus Osterrieder: ›Welt im Umbruch‹, S. 957.
[17] Rudolf Steiner: ›Aus schicksaltragender Zeit‹ (GA 64), Dornach 1959, S. 249. Steiner zitierte Besants Worte als Beleg dafür, wie der deutsche Geist verkannt und beschimpft werde.
[18] Brief von Edouard Schuré an Gustave Kahn vom 1. August 1909, zitiert nach Markus Osterrieder: ›Welt im Umbruch‹, S. 993.
[19] Markus Osterrieder: ›Zum geschichtlichen Kontext der Schrift »Gedanken während der Zeit des Krieges«‹, in: ›Archivmagazin. Beiträge aus dem Rudolf Steiner Archiv Nr. 4‹, Dornach 2015, S. 133.
[20] Vgl. Rudolf Steiner: ›Gedanken während der Zeit des Krieges‹, in ders.: ›Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage 1915-1921‹ (GA 24), Dornach 1982, S. 279-332).
[21] Alle Zitate nach Markus Osterrieder: ›Zum geschichtlichen Kontext ...‹, S. 115-144.
[22] Vgl. a.a.O., S. 124f. Andererseits sind stilistische Parallelen zwischen Rudolf Steiners Kriegsschriften und den pangermanistischen ›Alldeutschen Blättern‹ festgestellt worden. Vgl. Michael Loeckle: ›Anmerkungen zu Rudolf Steiners Deutschlandrezeption‹, in: ›Jahrbuch für Anthroposophische Kritik 1996‹, S. 143-148.
[23] Ansgar Martins: ›»Nationalist Cosmopolitanism«: Anthroposophen und der Erste Weltkrieg – ein Interview mit Peter Staudenmaier‹ – https://waldorfblog.wordpress.com/2014/04/24/staudenmaier-wk1/
[24] Rudolf Steiner: ›Geisteswissenschaftliche Erläuterungen zu Goethes »Faust« Bd. I: Faust, der strebende Mensch‹ (GA 272), Dornach 1981, S. 250.
[25] Ders.: ›Innere Entwicklungsimpulse der Menschheit. Goethe und die Krisis des neunzehnten Jahrhunderts‹ (GA 171), Dornach 1984, S. 359.
[26] Ders.: ›Zeitgeschichtliche Betrachtungen. Das Karma der Unwahrhaftigkeit – Zweiter Teil‹ (GA 174), Dornach 1983, S. 182f.
[27] Markus Osterrieder: ›Welt im Umbruch‹, S. 947.
[28] Carl Unger: ›Aus der Geschichte der anthroposophischen Bewegung‹, in: die Drei 5/1921, S. 502f.
[29] Rudolf Steiner: ›Soziales Verständnis aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis‹ (GA 191), Dornach 1989, S. 290. Das Zitat findet sich in Aimée Blech: ›Annie Besant – Présidente de la Société Théosophique: Un abrégé de sa vie‹, Paris 1918, S. 64. Aimeé Blech (1862–1930) war die Schwester von Charles Blech (1855–1935), der 1908-1934 Generalsekretär der französischen Sektion der ›Theosophischen Gesellschaft‹ war.
[30] Vgl. Aimée Blech: op. cit., S. 62.
[31] Rudolf Steiner: ›Die Anthroposophie und ihre Gegner 1919-1921‹ (GA 255b), Dornach 2003, S. 330.
[32] Marie Steiner: ›Helmuth von Moltke und Rudolf Steiner‹, in Roman Boos (Hrsg.): ›Rudolf Steiner während des Weltkriegs‹, Dornach 1933, S. 94f.
[33] Vgl. Markus Osterrieder: ›Welt im Umbruch‹, S. 999. Schuré bezeichnete sich im Rückblick selbst als »Chauvinisten «, ebd.