Vom Festschreiben zum Aktualisieren
Rassismuskritische Hermeneutik der Anthroposophie. Dieser Artikel ist zuerst erschienen in der Zeitschrift "DieDrei", Ausgabe März/April 2021.
Es war eine bemerkenswerte Intuition, welche die deutsch-iranische Komikerin Enissa Amani dazu brachte, als Reaktion auf den unsäglichen WDR-Talk ›Die letzte Instanz‹ vom 29. Januar 2021 ein eigenes Fernsehformat aus dem Boden zu zaubern und über ›Youtube‹ anzubieten. Nicht nachhallende Kritik an der Tatsache, dass in besagter Talk-Show Vertreter der Mehrheitskultur verständnis- und geschmacklos über diskriminierungssensible Themen palaverten, sollte es sein. Nein, etwas Konstruktives: ein Gespräch mit profilierten Vertreterinnen und Vertretern von Minderheitskulturen, deren Stimmen an solcher Stelle allererst gefragt sind. Die Sendung wurde, auf diesen Anlass anspielend, kurzerhand und selbstbewusst ›Die beste Instanz‹ betitelt.[1] Wofür dieser Vorgang und diese Sendung ein Exempel bot, das war, ein Feld der Lernerfahrungen und der Bewusstwerdung von Haltungen und Urteilsgewohnheiten zu schaffen, die unsere Mehrheitskultur durchziehen und die besonders sensibel in Schulen, im öffentlichen Leben und in jeder Begegnung zwischen Menschen wirksam sein können.
Mehrheitsgesellschaft zu subtilen Abwertungen führen und sich in Institutionen strukturell auf die Machtverhältnisse auswirken. Das ist auch da der Fall, wo kein expliziter Rassismus herrscht. Um die Fetische von »Identitätspolitik« oder das Exerzieren angepasster »Political Correctness« geht es dabei nicht. Denn, so sagt der Komiker und RomaAktivist Gianni Jovanovic, solange »Menschen auf ihre Identität pochen müssen, sind das nicht die, die mit der Macht auf Augenhöhe stehen.«[2] Auch die Formen politischer Korrektheit verfolgen keinen Selbstzweck. Sie setzen auf einen bewussten Gebrauch der Sprache, weil sie Verhältnisse und Freiheitsgrade formt und gestaltet.[3] Rassismus, so legt sich nahe, ist keine Haltung und kein Problem »der anderen«.
Halten wir also fest: Der aktuelle Diskussionsrahmen von »Rassismus« stellt sich auf der Ebene von alltäglichen, habituellen Formen der Diskriminierung, die sich vor allem als blinde Flecken von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaften zeigen. Das ist ein impliziter Rassismus, den wir als Mitglieder der Dominanzgesellschaft kulturell und weitgehend unbewusst übernehmen und weitergeben. Anders steht es mit dem expliziten Rassismus, den wir in unserer Gesellschaft auch finden, aber als extreme Position, die nicht nur den Gemeinsinn, sondern vor allem den rechtlichen Rahmen der Gesellschaft verlässt und nicht der eigentliche Gegenstand meiner Darstellung ist. Und gewiss gibt es dazwischen fließende Übergänge. Ich gehe in diesem Text von einem unspezifischen Begriff von Rassismus aus, der alle Formen der Diskriminierung anderer aufgrund von Hautfarbe, Herkunft oder ethnischer Zugehörigkeit einschließt (und darin seine möglichen Verschärfungen mit meint).
Apologie oder Ablehnung
Gehen wir nun von der Gegenwart des Rassismus 100 oder 120 Jahre zurück in den historischen Kontext Rudolf Steiners, dann finden wir explizite Rassenlehren und entsprechende Rassismen in großer Selbstverständlichkeit vor. Die Haltungen des Kolonialismus und des Imperialismus sind allgegenwärtig. Wir finden fraglos rassistische Lehren und Meinungen, die ausdrücklich tendenziös sind. Und es gibt Rassenlehren wie die Entwicklungsbiologie Ernst Haeckels, die als naturwissenschaftliche Tatsache vorgetragen werden und die Menschengruppen (»Rassen«) insofern diskriminieren, als sie von einem unter schiedlichen Entwicklungsgrad dieser Gruppen ausgehen, sie nach körperlichen Merkmalen in Stufen ordnen und in dieser Reihenfolge bewerten. Eine ins Geistige transponierte Entwicklungslehre mit »Rassen« findet sich bei Helena P. Blavatsky. All das muss ich hier nicht eigens darstellen. Sowohl auf Haeckel wie auf Blavatsky hat Steiner zurückgegriffen. Die unterschiedlichen Formen, in denen er sich in diesem historischen Kontext rassistisch geäußert hat, sind bereits sorgfältig untersucht und sortiert, sowie umsichtig kommentiert worden.[4] Soviel ist deutlich, dass Steiner kein Rassist im agitierenden Sinn des Wortes war. Trotzdem hält die Debatte darüber an. Warum? – Aus meiner Sicht gibt es dafür im Wesentlichen vier Gründe:
1. Ambivalenz. Einerseits: Der Großteil von Steiners Werk, vor allem was seine Ausführungen zu den praktischen Feldern wie der Waldorfpädagogik angeht, haben einen klaren emanzipatorischen Duktus und sind weit von irgendeiner Rassenideologie entfernt. Das kann ich aus meiner Tätigkeit als Waldorflehrer nur unterstreichen. Entsprechende Textstellen und Lehren lassen sich als eine positive Linie aus seinem Werk gut herauspräparieren.[5] Auf der anderen Seite gibt es Aussagen, die irritieren und wozu nicht nur diejenigen überschaubarer Anzahl gehören, die als rassistisch qualifiziert werden und die nicht einfach als »bloß zeitgebundene« Aussagen einer Minusrechnung unterzogen werden können.[6] Das Werk Steiners ist überdies schwer überschaubar, es ist ungeheuer vielfältig und für viele genügt es, mit einem Buch oder einem Aspekt seines Werkes zu arbeiten, ein Leben lang. Das Meiste des übrigen Werkes bleibt dabei ungesehen, zumindest ungeprüft. Zur Komplexität und Vielseitigkeit kommt der Aspekt beständiger Entwicklung, der fluide Charakter meist mündlich vorgetragener Lehren, zahlreiche Lernerfahrungen, Erweiterungen und auch Revisionen Steiners – etwa ein allerdings diffuses Eingeständnis, dass er in früheren Jahren die Macht des Antisemitismus unterschätzt habe.[7] Einerseits möchte Steiner als Wissenschaftler gelten und andererseits bringt er sich in Asymmetrie zum herkömmlichen Wissenschaftsverständnis. All das irritiert und macht eilfertige Schlussfolgerungen im Sinn der leicht ironischen, umgangssprachlichen Frage: »Ist er nun ›gut‹ oder ›böse‹?« schwierig.[8]
2. Fortschrittslineare Entwicklungslehre. Sind es nur einige Stellen in Steiners Werk, die vor allem »zeitgebunden problematisch« sind, oder ist sein Werk insgesamt – und jenseits der Ambivalenz – von einer rassistischen Tendenz durchzogen? Autoren wie Peter Staudenmaier äußern sich auf der Grundlage eines genaueren Studiums von Steiners Werk im Sinne der zweiten Richtung. Ansgar Martins spricht in diesem Sinn von einer »Geschichtsmetaphysik« Steiners oder einem »esoterischen Darwinismus«, die seiner Rassenlehre zugrunde läge. Damit wird der Maßstab eine Stufe tiefer gelegt. Es geht nicht mehr nur um einzelne abwertende Äußerungen oder zu inkriminierende Rassenlehren, sondern es geht um den Denkansatz, der sich mit dem Reinkarnationsgedanken verbindet. Da es sich dabei nicht um einige Facetten von Steiners Erzählungen handelt, sondern um ein Kernargument, werde ich hier darauf eingehen.
3. Hermeneutische Un/Sicherheit. Sich der Herausforderungen bewusst, die viele seiner Aussagen für den Nachvollzug bedeuten, hat Steiner vorgeschlagen, sie wie eine Erzählung zu verstehen, der zugehört wird, ohne zunächst pro oder contra zu urteilen. Was aber, wenn nach einer längeren Phase des Nichturteilens doch ein Urteil, eine Stellungnahme, eine Entscheidung nötig wird? Und wenn es gegen Steiner ausfällt – für jemanden, der sich mit seinem Werk verbindet? Die Tendenz ist bislang vorherrschend, dass man sich entweder ganz für Steiner oder ganz gegen ihn entscheidet. So bleibt die Alternative zwischen Apologie oder Ablehnung. Dass aber eine kritische, aufmerksame, wissenschaftsorientierte Auseinandersetzung sich dazwischen oder vielmehr jenseits von Apologie und Polemik bewegen muss und vor allem, wie das geschehen kann, das habe ich in früheren Studien zur Hermeneutik des Steinerschen Werkes ausgearbeitet.[9] Von diesem Stand gehe ich hier aus. Wichtig ist dabei, die Bedeutung stark zu machen, die Steiner selbst im hypothetischen Charakter seines Werkes sieht. Demzufolge muss alles, was er als geistige »Tatsache« schildert, es für mich nicht sein, auch wenn hier zu entwickelnde (asymmetrische) Standpunkte eine Rolle spielen. Ich sollte in meinem Urteil auf Steiners Besonderheiten eingehen und ihnen wie in jeder hermeneutischen (verstehen wollenden) Beziehung gerecht zu werden versuchen. Aber ich kann mein Urteil nicht an ihn delegieren. Deshalb ist für sein Werk eine affirmative Lektüre nicht grundsätzlich richtig. An dieser Stelle genügt es nicht, pro forma zu zitieren, dass Steiner ja gefordert habe, dass man sein Werk prüfen solle, solange das nicht auch in den entsprechenden Konsequenzen getan wird. Unter Kritik verstehe ich hier in erster Linie, in Ableitung vom griechischen Verb κρίνειν: unterscheiden, trennen, differenzieren, und erst in späterer Folge beanstanden, zurückweisen; was ich nicht darunter verstehe, ist, einer Sache gegenüber eine feindliche Haltung einzunehmen.
Im Teufelskreis
Auf diesem Hintergrund einer grundlegenden und anspruchsvollen hermeneutischen Unsicherheit haben viele Aussagen Steiners einen prinzipiell provisorischen Charakter. Sein Werk kann mit dem Gefühl der Sicherheit nur Gläubige ausstatten. Und im Kontext solcher hermeneutischer Überlegungen geht es nicht mehr nur um die Historisierung, d.h. die Frage, inwiefern Steiner in seiner Zeit verbreitete Lehren lediglich unbekümmert vertreten habe, ohne direkt dafür »verantwortlich« zu sein. Hier geht es darum, gegenüber seinem Werk den Rezeptionsstandpunkt stark zu machen und es nicht als Ganzes für sakrosankt zu erklären. Das Werk Rudolf Steiners ist von diesem Standpunkt aus das, was ich von ihm rezipieren, umsetzen und aktualisieren kann. Nicht der aus flüchtigem Wort fixierte Buchstabe. Steiner entgegenkommend und zugleich für mich aktualisierend lesen, das tue ich (jeweils) von meinem eigenen historischen Standpunkt aus nach den von mir zu verantwortenden Maßstäben. Und das ist kein beliebiger, sondern ein notwendiger und unvermeidbarer Standpunkt. Steiners Werk ist kein festgefrorenes Corpus. Es hat deshalb auch nicht den Charakter eines in Teilen »unannehmbaren Erbes«, sondern den eines ambivalenten und in sich dynamischen Geschehens, das sich in der kritischen Rezeption verändern kann und muss. Dabei hilft aber weniger der einseitige Verweis auf die emanzipatorischen Seiten Steiners, sondern eher die Auseinandersetzung mit seinen problematischen. Nicht zuletzt kann nur so der eingespielte »Teufelskreis«[10] zwischen Kritikern und Apologeten aufgelöst werden.
4. Relevanz für das praktische Leben. Wenn ich die aktuellen Darstellungen zur Rassenlehre von Blavatsky ansehe, dann wundere ich mich darüber, dass ihre Lehre gegenüber der sehr ähnlichen Steiners sozusagen unbescholten durchgeht, dass sie keine Kritik auf sich zieht. Das mag daran liegen, dass sie dort als bloße Mythologie dargestellt wird, der wenig Relevanz für das praktische Leben zukommt und die sich deshalb auch nicht in einen agitierenden Rassismus verwandeln könne.[11] Demgegenüber hat Steiner seiner Transformation der Theosophie mit seiner Naturwissenschaftsorientierung eine größere Härte verliehen, die heute auf die naturwissenschaftliche Einsicht prallt, dass es keine »Rassen« gibt.[12] Vor allem aber dürfte hier von Bedeutung sein, dass Blavatskys Lehre in der heutigen Alltagskultur keine Rolle spielt, wohingegen Steiners Werk vor allem durch die sogenannten »Töchter«, die biodynamische Landwirtschaft, die anthroposophische Medizin und die Waldorfschulen – also in seinen Auswirkungen – sehr präsent ist. Sind diese Auswirkungen Teil des öffentlichen Lebens, so sind es – unter den Voraussetzungen heutiger digitaler Informiertheit – umso mehr die problematischen Seiten in deren Hintergrund.[13]
Rigoroser Duktus
Wie also Steiners Werk rassismuskritisch lesen? Die Auseinandersetzung mit dem strukturellen und habituellen Alltagsrassismus, von der am Anfang die Rede war, tritt da zunächst in den Hintergrund, weil das schon ein Jahrhundert zurückliegende Werk Steiners zunächst historisch-kritisch gelesen werden muss. Dazu gibt es bereits eine Reihe von Studien. Seit 2014 liegt ein umfangreiches und sehr gründliches Werk von Peter Staudenmaier vor.[14] Staudenmaier behandelt dabei Steiner als Repräsentanten des »Okkultismus« in der europäischen Moderne und setzt sich mit seinem Werk im ersten Kapitel direkt auseinander, während die übrigen Kapitel sich mit der Geschichte und vor allem der Weltanschauungsproduktion der Anthroposophen im Anschluss an Steiner vor und im Nationalsozialismus beschäftigen und die letzten beiden Kapitel einzelne Anthroposophen im italienischen Faschismus thematisieren. Staudenmaier greift einerseits auf seit den 90er Jahren zugängliche Quellen aus dem Reichssicherheitshauptamt im Bundesarchiv in Berlin zurück, zieht ausführlich die wissenschaftliche Literatur zur Deutung der historischen Kontexte heran und zitiert mit großer Akribie aus der anthroposophischen Literatur jener Zeit, die heute kaum jemand, der sich mit Steiner beschäftigt, kennt. Das mit großer Sorgfalt erarbeitete Buch gilt in der Religionswissenschaft und der Esoterikforschung bereits als Standardwerk zum Thema Nationalsozialismus und Okkultismus.
In der Hauptsache ergibt sich aus Staudenmaiers Arbeit, dass die das bisherige Selbstverständnis prägende, deutliche Absetzung von den Nationalsozialisten nicht in der absoluten Form gelten kann, wie es in der Nachkriegszeit von Anthroposophen selbstverständlich gesehen wurde. Die anthroposophischen Institutionen können sich nicht mehr nur als Opfer des Verbots durch die NS-Regierung sehen. Anthroposophen waren keineswegs »immun« gegen Hitler. Es gab unter den Nationalsozialisten Gönner der Anthroposophie, wie es Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft gab, die zugleich Nazis waren. Durch seine akribischen Studien zeigt Staudenmaier, dass das für wesentlich mehr als ein paar versprengte Einzelne der Fall war. Gerade in der unpolitischen Haltung sieht er im Verbund mit einschlägigen Weltanschauungselementen die Tendenz, dass dadurch indirekt ein nazistisches Engagement entstand:
Unpolitische Haltung plus esoterische Rassenlehre beförderte in dieser historischen Situation nazistisches Engagement.[15]
Durch diese plausible Gleichung wird zum Beispiel meine Deutung der sozialen Wirksamkeit anthroposophischer Ansätze verändert und erweitert, die ich seit den 80er Jahren als sozial besonders innovativ und egalitär wahrgenommen hatte. Es trifft mich in meiner Identifikation mit dem Werk Steiners wie eine »narzisstische Kränkung« oder, genauer gesagt, tiefe moralische Irritation einerseits, andererseits wie das Aufwecken aus einer Art »metaphysischem« oder besser gesagt »historischem Schlummer«. Das Buch in seiner dichten gedanklichen Darstellung und mit den zahlreichen Quellenverweisen sollte eine wichtige Referenz für den erwähnten Aufwachprozess sein. Gleichzeitig wirft es verschiedene Fragen auf.
Es ist deutlich, dass es Staudenmaier um die Darstellung von Affinitäten oder gar Kooperation mit dem Nationalsozialismus geht. Diese dekliniert er in aller Gründlichkeit durch und hebt über die Nachfolger Steiners in den 20er und 30er Jahren oft überbordende Nachweise aus den Archiven. Die Aspekte deutlicher Abgrenzung sowie Verfolgung und Widerstand von Anthroposophen werden zwar erwähnt, aber kaum einbezogen bzw. völlig ausgelassen (wie Ita Wegman oder Albert Steffen). Darin besteht ein Ungleichgewicht des Buches. Es entsteht so der Eindruck, dass die Deutungsmöglichkeiten von Steiners Werk enger oder bindender seien, als sie es offenbar waren. Staudenmaier führt das ganze Spektrum zwischen Kooperation, Anpassung und Widerstand nicht ausgeglichen vor Augen.
Die historische Frage, wie stark die nach rechts geneigte Tendenz war, gerät auf eine quantitative Ebene, wenn es wiederholt unbestimmt heißt, eine »gewisse Anzahl« oder »manche« Personen seien in irgendeiner Form dem Nationalsozialismus affin gewesen.[16] Was ist mit den nicht genannten und nicht bekannten Personen, deren Haltung nicht überliefert ist? Waren sie schon deshalb auch Nazis? Hinzu kommt das Thema der begrifflichen Unschärfe, die sich in dem Buch durchgehend findet.[17] Ähnliche, gleich klingende, analoge Begriffe haben zwar eine scharf zu trennende Bedeutung, aber in der Anknüpfung an Steiners Aussagen von seinen Schülern werden diese Differenzierungen oft genauso unterschlagen [18] wie von den Kritikern.[19] Die metaphorisch oder spirituell gemeinte Rede vom »Blut« etwa muss nicht zwangsläufig Bestandteil einer »Blut und Boden«-Ideologie sein.[20]
Die Frage, welche Rolle Steiners innerer Werkdynamik zukommt, was Modifikationen, Revisionen oder eklektische Aneignungen für eine Bedeutung haben, wird nicht aufgeworfen. Eine subtile Erwägung wie die, dass Steiner das Abwertende seiner Rassenlehren »gespürt«[21] und deshalb sich bemüht habe, sie zu modifizieren, kann bei Staudenmaiers rigorosem Duktus keinen Platz finden. Andererseits hat dieser Duktus den Vorteil, dass er die Problematik unausweichlich macht. Hier zerschellen alle Entlastungsargumente. Was auch immer im Einzelnen zu Staudenmaiers Thesen und Befunden zu sagen sein wird, es kann nicht auf einen pauschalen Freispruch hinauslaufen. Denn die Beschäftigung mit der Anthroposophie allein bietet keinen automatischen Schutz vor einer rassistischen Haltung. Gleichzeitig verführt sie auch nicht automatisch zum Rassismus. Sie muss immer selbstverantwortet erfolgen, nach dem Prinzip größtmöglicher persönlicher Autonomie und universeller Freiheit, das sich in Steiners Werk zwar findet, aber eben nicht zwingend damit praktiziert wird. Es versteht sich mithin, dass diese Perspektive als sich entwickelnde in Konflikt mit jedem Rassismus geraten muss – auch dem eigenen. Auf die entschiedene Klärung dieser Haltung im Umgang mit diesem heterogenen Werk kommt es an. Das heißt darauf, wie wir Steiner lesen.
Fortschrittsdenken als Diskriminierung
Da eine Auseinandersetzung mit der Arbeit Staudenmaiers breitflächiger und facettierter stattfinden sollte, konzentriere ich mich exemplarisch auf das oben in Punkt 2 »Fortschrittslineare Entwicklungslehre« genannte Kernargument. Die entsprechende Textstelle findet sich in ›Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?‹, also einer Schrift, die nichts mit Rassenlehren zu tun hat, sondern ausschließlich die innere Entwicklung betrifft. Sie wird weder im Bericht der niederländischen Kommission noch im ›Frankfurter Memorandum‹ als problematisch erwähnt. Außerdem handelt es sich um eine mehrfach überarbeitete Schrift, kein stenografisch festgehaltenes Wort, wodurch ihr ein größeres Gewicht zukommt als einer Stelle aus dem Vortragswerk. Ich zitiere aus dem Kapitel über den ›Großen Hüter der Schwelle‹ und bin mir bewusst, dass hier eine Reihe von Gesichtspunkten eine Rolle spielen, die ich vernachlässige, um die genannte Problematik sichtbar zu machen:
Der Grad der Verstricktheit mit der physisch-sinnlichen Natur wird dem Menschen durch den ›Hüter der Schwelle‹ anschaulich. Diese Verstricktheit drückt sich zunächst in dem Vorhandensein der Instinkte, Triebe, Begierden, egoistischen Wünsche, in allen Formen des Eigennutzes usw. aus. Sie kommt dann in der Angehörigkeit zu einer Rasse, einem Volke usw. zum Ausdruck. Denn Völker und Rassen sind nur die verschiedenen Entwicklungsstufen zur reinen Menschheit hin. Es steht eine Rasse, eine Volk um so höher, je vollkommener ihre Angehörigen den reinen, idealen Menschheitstypus zum Ausdruck bringen, je mehr sie sich von dem physisch Vergänglichen zu dem übersinnlich Unvergänglichen durchgearbeitet haben. Die Entwicklung des Menschen durch die Wiederverkörperungen in immer höher stehenden Volks- und Rassenformen ist daher ein Befreiungsprozess. Zuletzt muss der Mensch in seiner harmonischen Vollkommenheit erscheinen.[22]
In dieser Textpassage wird eine Linie gezeichnet, die von der »Verstricktheit« zur »harmonischen Vollkommenheit« bzw. zum »idealen Menschheitstypus« führt. Merkmale der Verstricktheit sind Instinkte, Triebe, Begierden, Egoismus und damit Sinnlichkeit, sie ist vergänglich, wohingegen der ideale Menschheitstyp unvergänglich, rein und geistig ist. Auf der Skala zwischen den beiden Werten, zwischen Anfangs- und Endpunkt der Linie, bilden »Völker« und »Rassen« das leibliche Medium des Fortschreitens in diesem »Befreiungsprozess«, den die Individuen durch Inkarnation in immer bessere Körper vollbringen. Damit ist klar, dass das Individuum, je nachdem auf welcher Stufe es gerade inkarniert ist, auch seinen Grad der Vergeistigung oder Befreiung bzw. den seiner Verstricktheit dokumentiert. Die gut gemeinte europäische Idee der Entwicklung zur Freiheit wird in dieser Form zum Rassismus, welcher Menschen aufgrund körperlicher Merkmale, die als »Rassen« gelesen werden, eindeutig diskriminiert. Die Diskriminierungsskala erstreckt sich dabei zwischen sinnlich und geistig mit den entsprechenden genannten Attributen. Je sinnlicher, umso schlechter, je geistiger, umso besser im Sinne der persönlichen, aber auch der Weltevolution. Die Idee der Reinkarnation verschärft diesen Rassismus noch dadurch, dass unterschiedlich typisierte Leibformen wie bessere oder schlechtere Fahrzeuge gesehen werden, mit denen die Individuen nicht nur die Stufe ihres persönlichen Fortschritts anzeigen, sondern die Tatsache der Leiblichkeit überhaupt und vor allem der individuelle Leib abgewertet wird.[23]
In diesem Text, der 1905 verfasst wurde und der alle Überarbeitungen überstanden hat, greift Steiner auf Haeckels Rassenlehre zurück und verbindet sie mit der Reinkarnationsidee sowie einem linearen geschichtsphilosophischen Modell, das lediglich durch die Abfolge von Inkarnationen rhythmisiert wird und zu einer rassistischen Ideologie führt, die auch dann gilt, wenn wir berücksichtigen, dass der ganze Passus von einem hohen spirituellen Ethos getragen wird. Steiners Aussagen zeigen sich aus mindestens drei Gründen als nicht haltbar: 1. greifen sie auf überholte naturwissenschaftliche Modelle zurück, und Steiner legte Wert auf die Abgleichbarkeit mit naturwissenschaftlichen Aussagen, die hier zu einem negativen Ergebnis führt; 2. haben die Aussagen als solche Modellcharakter, und es fragt sich, wo die Ansatzpunkte für ihre Nachprüfbarkeit gegeben sein können – in diesem Textabschnitt bietet sie sich nicht; 3. hat diese Aussage als relativ simples geschichtsphilosophisches Modell einen lediglich weltanschaulichen oder ideologischen Charakter, der Zustimmung nur in Form eines Glaubens finden könnte, etwa mit einem autoritativen Bezug auf Steiners »Schau«.
Abgleich mit der eigenen Erfahrung
Nun hat Steiner grundlegenden Wert auf die Nachvollziehbarkeit seiner Aussagen gelegt und auch in ideeller wie in spiritueller Hinsicht auf Erfahrbarkeit. Streng genommen haben seine Aussagen nur dann Geltung, wenn sie auch in der individuellen Erfahrung ausgewiesen werden können. Haben wir hier also klare sachliche sowie moralische (weil wir die implizierten Diskriminierungen zurückweisen) Gründe, diese Aussage nicht zu akzeptieren, so bleibt zu fragen, welche Rolle sie in ihrem Kontext spielt und ob unter dem Schutt überholter und problematischer Aussagen ein Anliegen zutage tritt, das von unserer Kritik nicht betroffen wird.
Der Kontext dieses Zitates ist eine erzählend-szenische Darstellung der Begegnung mit jener Gestalt, die Steiner in Anlehnung an ein literarisches Vorbild »Hüter der Schwelle« nennt und die zunächst eine Selbstbegegnung darstellen soll mit den nicht integrierten, nicht von ihm selbst verantworteten Anteilen des Individuums als auch in dessen Abhängigkeit von »Familie«, »Stamm«, »Volk«, oder »Rasse« (vgl. S. 199). Einerseits drückt Steiner sich hier recht summarisch und ungenau aus, so dass der Eindruck entsteht, es gehe pauschal um verschiedene Formen der Gruppenzugehörigkeit, wie auch immer sie aussehen. Andererseits legt er Wert darauf, dass es sich mit diesen Gruppen um keine abstrakten Begriffe, sondern um real wirksame Qualitäten handle, von denen die Individuen bislang beherrscht worden seien, von denen sie sich aber nun befreien sollten, um sie umgekehrt aus der neu erreichten Souveränität heraus zu unterstützen (vgl. S. 200). Wenn Steiner nun sagt: »In voller Wahrheit kann man davon sprechen, dass sich z.B. eine Volksseele des einzelnen zur ihrem Volke gehörenden Menschen bedient, um gewisse Arbeiten auszuführen,« (ebd.) dann höre ich mir das als Erzählung an, bei der mich persönlich der Gedanke der Abhängigkeit von der Gruppe überzeugt, nicht aber das Narrativ von der gezielten Arbeit der Volksseelen. Mir geht es darum, die Wirksamkeit von Gruppendynamiken zu verstehen. Diese erschließen sich mir aber in Form von Familie und anderen Gruppierungen, nicht aber von »Volk», »Stamm« oder »Rasse«. Im Hintergrund steht das offenbar von Steiner aus dem Buddhismus übernommene Bodhisattva-Ideal, demzufolge die eigene Vervollkommnung nicht das Ziel der Entwicklung ist, sondern die Mitarbeit an der Vervollkommnung aller Wesen.
Dieses Ideal bedarf keiner »Rassen«- oder »Volksseelen«-Lehre.[24]
Die drastische Art, in der Steiner diese Vorgänge erzählt, verstehe ich als zeitgebunden und nicht wörtlich festzuschreiben. Das wiederum, was qualitativ in der Dynamik der Begegnung mit dem »Hüter« dargestellt wird, die dramatische Erkenntnis der eigenen Bedingtheiten und das Bemühen, sie zu überwinden, bleibt für mich als Gehalt dieser Erzählung bestehen. Ich schreibe das Wort Steiners also nicht fest, sondern ich aktualisiere, was ich persönlich aus seiner Darstellung als einem durchaus realen Prozess entnehmen kann. Ich höre – und frage, wo ich das Gehörte in der eigenen Erfahrung wiederfinden kann bzw. wo es der eigenen Erfahrung widerstreitet.
In dieser skizzierten Form wäre systematisch weiterzulesen.
Vor allem nicht nur in der Deutung und Aktualisierung solcher Texte, sondern auch in der übenden Sensibilisierung für das »Unterschiedmachen in bezug auf Menschen nach äußerlichen Rang-, Geschlechts-, Stammeskennzeichen usw.« (ebd., S. 95), das Steiner selbst als zu bekämpfende Eigenschaft bezeichnet. Mit anderen Worten: in der Sensibilisierung für Formen der Diskriminierung als Klassismus, Sexismus, Rassismus und Ähnlichem. Diese Art von Übung vollbringe ich zwar in Steiners Sinn als Individuum, wichtiger aber wird heute der Austausch, das gemeinsame Lernfeld und vor allem das Anhören derjenigen, die aus ihren Diskriminierungserfahrungen berichten.
Ulrich Kaiser studierte Philosophie in München, Bochum und Paris und promovierte bei Bernhard Waldenfels über Edmund Husserls Phänomenologie. Nach seiner Ausbildung zum Waldorflehrer in Stuttgart war er viele Jahre Klassenlehrer in Hamburg. – ulrichkaiser@gmx.de
1 www.youtube.com/watch?v=r45_9wvbDoA&feature=youtu.b – Die Sendung hatte am 9. Februar 2021 Premiere und war bis Mitte März mehr als eine halbe Million Mal aufgerufen worden. Der WDR distanziert sich bezüglich der ›Letzten Instanz‹ vom 29. Januar 2021 mittlerweile auf seiner Website vor allem von der Auswahl der Gesprächspartner: »Bei so einem sensiblen Thema hätten unbedingt auch Menschen mit diskutieren sollen, die andere Perspektiven mitbringen und/oder direkt davon betroffen sind.« Zur Tonlage der Veranstaltung fällt kein Wort. – https://www.youtube.com/watch?v=v32zQTd7JwA
2 Das sehr lesenswerte Interview, aus dem ich zitiere, findet sich unter https://taz.de/Gianni-Jovanovic-ueberRassismus/!5754681&s=Gianni/
3 Kübra Gümüsay, ›Sprache und Sein‹, Berlin 2020.
4 Ted A. van Baarda: ›Anthroposophie und die Rassismus-Vorwürfe. Der Bericht der niederländischen Untersuchungskommission »Anthroposophie und die Frage der Rassen«‹, Frankfurt a.M 52009 [1998]; mein Ausgangspunkt ist die knappe Analyse und Stellungnahme zum Ergebnis der Untersuchungskommission von Ramon Brüll & Jens Heisterkamp: ›Rudolf Steiner und das Thema Rassismus. Frankfurter Memorandum‹, Frankfurt a.M. 32020 [2008].
5 Zuletzt in diesem Sinn Wenzel M. Götte, ›Antisemitismus und Rassismus bei Rudolf Steiner? Versuch einer Antwort‹, in: Albrecht Hüttig (Hrsg.): ›Kontroversen zum Rassismusvorwurf‹, Berlin 2017, S. 49-75, der zurückhaltend apologetisch darstellt, aber dennoch der Komplexität des Themas nicht gerecht wird
6 Vgl. zuletzt Peter Bierls Beitrag in der linken Tageszeitung ›junge Welt‹ vom 3. März 2021: ›Rotlicht: Anthroposophie‹, der hier die Thesen aus seinem Buch ›Wurzelrassen, Erzengel und Volksgeister. Die Anthroposophie Rudolf Steiners und die Waldorfpädagogik‹ (Hamburg 1999) erneut zusammenfasst.
7 Vgl. Rudolf Steiner: ›Verschämter Antisemitismus‹, in der.: ›Gesammelte Aufsätze zur Kultur- und Zeitgeschichte 1887–1901‹ (GA 31), Dornach 1989, S. 409. Vgl. Ramon Brüll & Jens Heisterkamp: op. cit, S. 17, die Steiners »Revision« hier wohl zu eindeutig verstehen.
8 In diesem Absatz schließe ich an den Ertrag von Ansgar Martins’ Untersuchung: ›Rassismus und Geschichtsmetaphysik. Esoterischer Darwinismus und Freiheitsphilosophie bei Rudolf Steiner‹ (Frankfurt a.M. 2012) an, vgl. besonders S. 141-144. Martins’ Lektüre hat den Vorzug, dass sie die problematischen Aussagen unbeirrt benennt und zugleich Ambivalenzen nicht voreilig vereindeutigt.
9 Vgl. Ulrich Kaiser: ›Der Erzähler Rudolf Steiner. Studien zur Hermeneutik der Anthroposophie‹, Frankfurt a.M. 2020. Das Buch basiert auf Aufsätzen, die zuerst in dieser Zeitschrift veröffentlicht wurden. 10 Ansgar Martins: op. cit., S. 143.
10 Ansgar Martins: op. cit., S. 143.
11 Vgl. James A. Santucci: ›The Notion of Race in Theosophy‹, in: ›Nova Religio. The Journal of Alternative und Emergent Religions‹, Vol. 11/ 3 (2008), S. 37-63; wesentlich differenzierter Isaac Lubelsky: ›Mythological and Real Race issues in Theosophy‹, in Olav Hammer & Mikael Rothstein (Hrsg.): ›Handbook of the Theosophical Current‹, Leiden 2013, S. 335-55; Lubelsky spricht von einem allenfalls geringen Einfluss theosophischer Rassenlehren, die im wesentlichen dem Zeitgeist entsprachen, auf die nationalsozialistische Ideologiebildung. Blavatskys Abgrenzung und Höherbewertung von ›arischen‹ gegenüber ›semitischen‹ Kulturen begründet er mit der antiklerikalen Einstellung Blavatskys. Schließlich: »The arrogant and racist remarks regarding the indigenous populations [...] reflected nineteenth-century European racism, and entered into Blavatskian mythology as examples of ›survivals‹ of purportedly more primitive populations.« Ebd., S. 353. Auch hier werden »reale« Aspekte einer Rassenlehre in den unverfänglichen Mythos aufgehoben, während Steiner die naturwissenschaftliche Relevanz seiner Aussagen stärker betont hat als Blavatsky und er mit einer Qualifizierung seiner Aussagen als (bloßem) »Mythos« nicht einverstanden sein dürfte. Hier versuche ich durch das Konzept der »Erzählung« zu differenzieren. Vgl. mein in Anm. 9 erwähntes Werk
12 Meine knappe Referenz ist hier die ›Jenaer Erklärung. Das Konzept der Rasse ist das Ergebnis von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung‹ – www.uni-jena.de/190910_JE
13 Vgl. das Gespräch von Jens Heisterkamp mit Michael Blume, dem Antisemitismusbeauftragen des Stuttgarter Staatsministeriums, in ›Info3‹ 2/2021 – https://info3-verlag.de/februar-2021/eine-anthroposophie-in-der-defensive-waere-ein-verlust/
14 Peter Staudenmaier: ›Between Occultism and Nazism. Anthroposophy and the Politics of Race in the Fascist Era‹, Leiden 2014.
15 Vgl. a.a.O., S. 64 ff.
16 Vgl. Peter Selg: ›Rudolf Steiner, die Anthroposophie und der Rassismus-Vorwurf. Gesellschaft und Medizin im totalitären Zeitalter‹, Arlesheim 2020, S. 164f. zum Problem der Generalisierung und dem Vorgehen, vereinzelte pro-nazistische Stimmen als pars pro toto zu nehmen; S. 270-73 zu Hans Büchenbachers Einschätzung, zwei Drittel der Anthroposophen in Deutschland seien Anfang der 30er Jahre pronazistisch gewesen. Ob Staudenmaiers Archiv-Verweise, wie Selg an einem Beispiel zeigt (S. 260f.), generell bloße »Scheinbelege« sind (S. 159), bleibt offen. Genauere Ergebnisse sind von der bei Selg angekündigten medizingeschichtlichen Studie zu erwarten. Die einzige explizite Auseinandersetzung von anthroposophischer Seite mit Staudenmaier stammt von Robert Rose: ›Evolution, Rasse und die Suche nach einer globalen Ethik. Eine Antwort auf die Kritiker der Anthroposophie und Waldorfpädagogik‹, Berlin 2016. Die hier aufwändig betriebenen begrifflichen Unterscheidungen zielen aber an Staudenmaiers materialbasierter historischer Studie vorbei. Selbst begrifflich ist die Argumentation von Rose nicht tragfähig, wenn er die Trennung von ontologischen und moralischen Aussagen als maßgebliches Kriterium seiner Argumentation hervorhebt (S. 229), die im Fall des Rassismus aber gerade aufgehoben ist. Es gibt keine wertfreie Verwendung des Begriffs »Rasse«.
17 Staudenmaier »refrains from providing a comprehensive portrait of Steiner’s esoteric ideas and worldview. Such a picture, even one constructed quickly with broad strokes, would give the reader an idea of the relative importance of the notion of race for Steiner’s thinking, and it would also give the reader a hint about what other issues the anthroposophical and the Nazi imaginations could attract or repel. Chapter 4, bearing the subtitle ›Ideological affinities between anthroposophy and Nazism‹, does not really give us this in any substantial way.« – Stefan Arvidsson in ›Correspondences 2.2‹ (2014) S. 215–237, hier S. 219.
18 Ich denke etwa an das krasse Beispiel des Völkerkundlers Richard Karutz, das dicht nach Steiners Tod begann und mit dessen völkisch-rassistischer Ausprägung Steiner Schwierigkeiten gehabt haben dürfte. Zu Karutz vgl. Peter Staudenmaier: op. cit., S. 90-92.
19 Frank Steinwachs argumentiert, dass die bloße »Parallelität« von Begriffen wie »Blut« und »Volksseele« noch nicht auf eine Bedeutungsgleichheit in verschiedenen Kontexten schließen lasse, was aber in akademischen Arbeiten gemacht wird. Die Kehrseite dieses Arguments besteht allerdings darin, dass Autoren, die an Steiner anschließen, oft mindestens so unscharf parallelisieren wie die von Steinwachs kritisierten akademischen Autoren. Vgl. Frank Steinwachs: ›Rudolf Steiner, der Gral und der völkische Nationalismus. Eine kritische Auseinandersetzung mit Sandra Franz’ »Die Religion des Grals«‹, Berlin 2014, S. 61f. und 68f.
20 Kritisch allerdings Peter Staudenmaier: op. cit., S. 53ff., der auf den zeitgeschichtlichen Hintergrund des deutschen Völkermordes an den Herero und Nama hinweist, von dem er meint, Steiner spiele darauf an und habe ihn stillschweigend geduldet (Steiner »tacitly condoned genocide«, S. 54). Allerdings fehlt hier der konkrete Vergleich, wie sich andere intellektuelle Zeitgenossen in dieser Situation verhalten haben.
21 Ansgar Martins: op. cit., S. 142.
22 Rudolf Steiner: ›Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?‹ (GA 10) 1961, S. 209f. Weitere Zitate aus diesem Zusammenhang mit Seitenangabe im Text. Vgl. Peter Staudenmaier: op. cit., S. 43.
23 Neben der Lesart, die ich im Folgenden vorstelle, wäre auch das Motiv der Inkarnation aufzugreifen im Sinne einer Phänomenologie, Naturwissenschaft und Soziologie des Körpers bzw. Leibes, kurz des Embodiment, für die in den letzten Jahrzehnten ein reiches Feld der Forschung vorliegt. Denn Steiner verfolgt im praktischen Kontext der Waldorfpädagogik – ganz anders als in unserem Zitat – das Ziel, Geist und Leib zusammenzudenken und das Moment der Verleiblichung zu akzentuieren. Dabei löst sich das Motiv eines rein »geistigen Idealtypus« in der Vielfalt der Denkansätze von Leiblichkeit auf. Hier fände sich keine trivial verkürzte Entwicklungstheorie, sondern ein forschungsbasiertes Feld der Begriffsbildung. Einen Beitrag in diese Richtung bietet aktuell Wilfried Sommer: ›Resonanzfiguren des verkörperten Selbst. Essays zu anthropologischen Perspektiven der Waldorfpädagogik‹, Weinheim 2021.
24 Vgl. zu diesem Motiv und seiner Entwicklung jetzt Andreas Neider: »BodhisattvaWeg« und »Imitatio Christi« im Lebensgang Rudolf Steiners‹, Stuttgart 2020.