Vor 100 Jahren: Ein Kampf auf Tod und Leben
Anthroposophie zwischen Weltoffenheit und Sektierertum. Erstveröffentlichung des Beitrags im Mai 2021 bei Themen der Zeit.
Seit Beginn der Coronakrise und den damit verbundenen Großdemonstrationen gegen staatliche Maßnahmen gerieten der Begriff «Anthroposophie» und damit auch Rudolf Steiner verstärkt in den Fokus der medialen Berichterstattung, allerdings weitgehend negativ gefärbt. So z. B. am 1. September 2020 bei «Zeit online»: «Sind das jetzt alles Nazis?» Als Entgegnung darauf ein offener Leserbrief von Peter Selg in der Wochenschrift «Das Goetheanum» vom 11. September 2020: Anthroposophie ist in ihrem Wesen und in ihrer Praxis antirassistisch.
Es gibt durchaus auch Wissenschaftler, die davor warnen, die Schuld am sektenhaften Verhalten mancher Anthroposophen ihrem Vordenker anzulasten: «Steiner selbst war am wenigsten dogmatisch, dogmatisch sind eher die Anhänger», meint der Bildungsforscher Heiner Barz in Bezug auf die Waldorfschulen. [1] In der Tat war Steiner weder wissenschaftsfeindlich noch ein Gegner staatlicher Ordnung. Bei aller Kultur- und Gesellschaftskritik handelte er doch letztlich pragmatisch. Auch sogenannte Impfgegner können sich nicht auf ihn berufen. [2]
Die Situation 1921/1922
Vor 100 Jahren allerdings tobte in Deutschlands Intellektuellenmilieu ein erbitterter Kampf um die Anthroposophie. Bei dem Publizisten Karl Ludwig, der eine sachliche Informationsbroschüre über die Bewegung mit dem Titel «Die Anthroposophie, ihr Wesen und ihre Ziele» [3] schrieb, heißt es zum Beispiel: «Beunruhigend ist der Hass, der sich in gewissen Kreisen gegen Dr. Steiner angesammelt hat. Gegen diesen Hass, der giftige Blüten treibt, muss jeder, der blinde Leidenschaft aus unserem Geistesleben verbannen will, aufs Schärfste Stellung nehmen.» [4] Aber auch Ludwig konnte das Provokative der Anthroposophie, die sich anschickte, für fast alle Lebensgebiete alternative Konzepte anzubieten, nicht übersehen: «Anthroposophie! lautet ein Ruf, der durch die deutschen Lande geht und der auch im Auslande nicht verstummen will. Er bedeutet eine Kampfansage an Gesellschaft und christliche Kirche, an Kunst und Wissenschaft, an Geistesleben und Wirtschaftsleben.» Ludwig zitiert einen deutschen Philosophieprofessor: «Die Anthroposophie drängt sich bis in unsere Hörsäle. Uns bleibt keine Wahl, wir müssen zu ihr Stellung nehmen!» [5].
Weitere gegnerische Stellungnahmen blieben nicht aus, wobei die schärfsten Formulierungen von politischer und von kirchlicher Seite kamen. [6] Der völkische Publizist Paul Lehmann schrieb 1921 in seinem antisemitischen Blatt «Der Hammer »: «Tatsächlich muss er [Steiner] politisch als Bundesgenosse von Deutschlands Verderbern angesehen und behandelt, deshalb auf Tod und Leben bekämpft werden.» [7] Der völkische Kampf gegen Steiner – an dem sich auch Adolf Hitler 1921 mit einem Aufsatz beteiligte – erreichte seinen vorläufigen Höhepunkt in einem gescheiterten Attentat in München am 15. Mai 1922. [8] Schon 1923 wies Karl Heise in einer Broschüre auf die Urheber dieses Überfalls hin. Demnach sollte Steiner «von Nationalsozialisten […] mittels Dolches niedergestochen werden (der Dolch befindet sich in Händen der Münchener Polizei)». [9]
Aber auch in Kreisen der evangelischen Kirche läuteten die Alarmglocken, nachdem immer häufiger evangelische Pfarrer (darunter auch der angesehene Friedrich Rittelmeyer) sich offen zu Rudolf Steiner bekannten. Die Beunruhigung wurde deutlich auf einer kirchlichen Konferenz, die im Herbst 1922 in Berlin stattfand. Dabei wurde versucht, eine wirksame Strategie zur Bekämpfung der Anthroposophie zu finden, die man als eine «diabolische» Macht bezeichnete. Eine Einigung konnte zwar nicht erzielt werden, doch am Ende wurde eine Parole ausgegeben, die an das genannte völkische Zitat erinnert: «Es gilt einen Kampf auf Tod und Leben. Die Seite wird siegen, die sich vom Heiligen Geist leiten lässt.» [10]
Das 21. Jahrhundert beginnt
Wie es heute mit der anthroposophischen Bewegung steht, wurde bereits angedeutet. Ihre Erfolge in den Praxisfeldern sind nicht zu leugnen, weswegen sie gelegentlich als «Großmacht» im alternativkulturellen Milieu etikettiert wurde. [11] Die «Lehre» und die Person ihres Begründers bleiben indessen hoch umstritten. Besonders die sogenannte Skeptikerbewegung bekundet ihre Gegnerschaft auf diversen Internetseiten. Sie wirft den Anthroposophen Rassismus und eine antidemokratische Gesinnung vor. Die Anthroposophie sei eine menschenverachtende Ideologie, eswegen Behörden und Gesetzgeber anthroposophische Schulen, Kliniken usw. streng überwachen sollten. [12]
Steiners Spagat zwischen Esoterik und Weltoffenheit
Viel zu wenig bekannt ist, dass Rudolf Steiner einen permanenten Kampf gegen sektiererische Neigungen seiner Anhänger führte. So rügte er 1921 deren Dilettantismus, Hochmut und die Abkapselung von der Welt. «Das Sektiererische hat ja die Eigentümlichkeit, daß es zwar oftmals hochnäsig und mit einer großen Geringschätzung von allem spricht, was außerhalb ist, aber von dem, was außerhalb ist, nicht viel versteht, daß es sich eben abschließen will, isolieren will. Das kann bei uns durchaus nicht auf die Dauer durchgeführt werden. Wenn unsere Bewegung ernst genommen werden will, ist es durchaus notwendig, daß nicht in derselben Weise über dieses oder jenes fortgeschwätzt werde, wie es vielfach üblich war […] Ich werde natürlich […] in diesen Dingen viel strenger werden müssen, als das bisher bloß aus einem gewissen Wohlwollen gegenùber der Mitgliederschaft geschehen ist.» [13]
Manche Freunde Steiners, wie die Publizisten Alexander von Bernus und Friedrich Lienhard, zogen sich wegen dieser Missstände von der anthroposophischen Gesellschaft zurück. Das galt auch für den Dichter Manfred Kyber, der Steiner vorwarf, den rufschädigenden Tendenzen nicht konsequent genug entgegenzutreten und einen radikalen Kurswechsel forderte, ja sogar eine völlige Auflösung der Anthroposophischen Gesellschaft. [14]
Warum Steiners Kritik und seine Forderung nach mehr Weltoffenheit letztlich nicht viel bewirkte, lässt Rom Landau erahnen, der auf die zu große Menschenfreundlichkeit Steiners hinweist: «Unfortunately, his faith in people, – perhaps the only fundamental mistake of Steiner’s whole live – proved once again wrong.» [15] Gemeint war damit Steiners Hilfsbereitschaft, mit der er, auch als er schon schwer krank war, Hunderte von Besuchern empfing, um sie in ihren Sorgen und Nöten zu beraten. Und es darf vermutet werden, dass dies seinem ohnehin bereits angeschlagenem Gesundheitszustand sehr abträglich war und damit auch seinen gesundheitlichen Zusammenbruch beschleunigte.
Wolfgang Vögele | Schwörstadt
Der Beitrag erschien zuerst im Mai 2021 bei Themen der Zeit.
[1] news4teachers.de vom 29.1.2019.
[2] Vgl. https://www.themen-der-zeit.de/pragmatismus-vs-fanatismus/ vom 26.2.2021.
[3] Karl Ludwig: Die Anthroposophie, ihr Wesen und ihre Ziele. Stuttgart 1922.
[4] Ebd., S. 14.
[5] Ebd., S. 5.
[6] Vgl. Rudolf Steiner: Die Anthroposophie und ihre Gegner. (GA 255b).
[7] Vgl. Rudolf Steiner: Die Anthroposophie und ihre Gegner. (GA 255b).
[8] Ausführlich dokumentiert im Archivmagazin Nr. 8, Dornach Dezember 2018.
[9] Karl Heise: Der katholische Ansturm wider den Okkultismus […]. Leipzig 1923, S. 94.
[10] Zit. nach Rudolf Steiner: Das Schicksalsjahr 1923 in der Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft. Vom Goetheanum-Brand zur Weihnachtstagung. GA 259, S. 809.
[11] Helmut Zander: Die Anthroposophie. Paderborn 2019, S. 8.
[12] Vgl. Peter Selg: Rudolf Steiner, die Anthroposophie und der Rassismusvorwurf. Arlesheim 2020.
[13] Rudolf Steiner: Die Verantwortung des Menschen für die Weltentwicklung durch seinen geistigen Zusammenhang mit dem Erdplaneten und der Sternenwelt. (GA 203), S. 205f, Vortrag vom 8.2.1921.
[14] Vgl. Wolfgang G. Vögele: Kritik aus der Peripherie. In «die Drei» 3/2021, S. 91.
[15] Rom Landau: God is my Adventure. London 1939, S. 73.