Schicksalhafte Aussprache
Ein Hinweis auf den anthroposophischen Kabbala-Forscher Ernst Müller. Dieser Artikel ist zuerst erschienen in der Zeitschrift "DieDrei", Ausgabe März/April 2021.
Dass Rudolf Steiner ein außerordentlich positives Verhältnis zu seinen jüdischen Schülern hatte, ist durch das Beispiel der beiden Stuttgarter Anthroposophen Carl Unger und Adolf Arenson weitläufig bekannt. Beide waren säkularisierte Juden, die wegen ihrer intellektuellen und philosophischen Begabungen schon in den frühen Jahren der anthroposophischen Arbeit Steiners Anerkennung und im Falle von Unger eine anhaltende, intensive Förderung erfahren haben. Beide waren überdies als Redner für die Verbreitung der Anthroposophie umfassend tätig. Während Unger nach dem Ersten Weltkrieg auch auf den wissenschaftlichen Kongressen der anthroposophischen Bewegung sprach, bemühte sich Arenson vor allem um die Erschließung des Vortragswerkes Rudolf Steiners. Unger publizierte überdies im Laufe seines Lebens zahlreiche philosophische Werke, die eine eigenständige Erschließung der Anthroposophie zum Ziel hatten und von Rudolf Steiner geschätzt wurden. [[1]]
Weniger bekannt ist hingegen, dass Rudolf Steiner auch religiöse Juden zu seinen Schüler zählte, die er ebenso förderte, und zwar im Hinblick auf die Erforschung des esoterischen Judentums, insbesondere der Kabbala. Um die Zusammenarbeit Rudolf Steiners mit einem solchen Schüler, dem aus Wien stammenden Ernst Müller, soll es im Folgenden gehen. [[2]]
Rudolf Steiners Vertrautheit mit dem esoterischen Judentum wird schon an einer Stelle in ›Das Christentum als mystische Tatsache‹ deutlich, wo es um die vorchristliche Ausprägung der Logoserfahrung in der jüdischen Kabbala geht.[[3]] Auch sprach er 1904 in esoterischen Stunden für einen kleinen Schülerkreis über die jüdische Geheimlehre.[[4]] Besonders ausgeprägt aber äußerte er sich 1910 in dem Vortragszyklus ›Die Geheimnisse der biblischen Schöpfungsgeschichte‹ über dieses Thema.[[5]] Dieser Zyklus wurde im August 1910 anlässlich der Uraufführung seines ersten Mysteriendramas ›Die Pforte der Einweihung‹ in München gehalten. Er stand in keinem direkten Bezug zu dem Mysteriendrama, das ja als ›Rosenkreuzermysterium‹ ausgewiesen ist. Wie also kam es, dass Steiner in diesem Kontext ausgerechnet über die biblische Schöpfungsgeschichte sprach? [[6]]
Zwischen Zionismus und Anthroposophie
Ernst Müller wurde am 21. November 1880 in der heutigen Slowakei geboren und übersiedelte 1898 mit seiner Familie nach Wien, wo er an der Universität studierte und sich für den Zionismus begeisterte. 1900 begegnete er Martin Buber, dem er lebenslang durch eine intensive Korrespondenz verbunden blieb. 1903 lernte er Schmuel Hugo Bergmann kennen, mit dem er später zusammen seine kabbalistischen Studien vertiefte. [[7]] Bergmann – der wie Müller mit Buber befreundet war – wurde später ebenfalls Schüler Rudolf Steiners und nach seiner Emigration nach Israel einer der wichtigsten Förderer der anthroposophischen Arbeit in Israel. Er lernte Steiner persönlich beim Vortragszyklus ›Eine okkulte Physiologie‹ 1911 in Prag kennen und reiste anschließend zum Philosophenkongress nach Bologna, um den dortigen Vortrag Steiners zu hören. [[8]]
1903 schloss Müller sein Studium mit der Befähigung für das Lehramt für Mathematik, Physik und Philosophie ab. 1907 beschloss er, nach Israel auszuwandern, um dort an einem Gymnasium in Jaffa zu unterrichten. Doch konnte er sich mit dem jüdischen Nationalstaatsgedanken nicht wirklich anfreunden, und eine Malariaerkrankung zwang ihn bereits 1909, wieder nach Wien zurückzukehren. Dort lernte er durch seinen Bruder Edmund die Wiener Theosophische Gesellschaft und 1910 anlässlich des Zyklus ›Mikrokosmos und Makrokosmos‹ [[9]] auch Rudolf Steiner kennen. Müller hatte »das erschütternde Erlebnis, dass ein Mann vor mir stand, der gerade um intime Züge meines bisherigen Lebens nach der geistigen Seite hin wusste und mich zunächst in ernsten Erkenntnisfragen beriet«[[10]]. Steiner riet ihm zu einer Bibliotheksanstellung, die er 1911 bei der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde fand. Die Bibliotheksarbeit bot Müller die ideale Voraussetzung für seine nun bald einsetzende Beschäftigung mit der jüdischen Esoterik.
Die Frage, wieso Rudolf Steiner anlässlich der Uraufführung des ersten Mysteriendramas über ›Die Geheimnisse der biblischen Schöpfungsgeschichte‹ so ausführlich vortrug, lässt sich eigentlich nur dadurch erklären, dass dies wegen der Anwesenheit Müllers geschah. Dieser berichtet darüber wie folgt: »Der ganze gewaltige Duktus der Darstellung schien aus einem unmittelbaren Kontakt mit althebräischen Mysterien emporgewachsen. Erst am letzten Tage besuchte ich Dr. Steiner, und gerade diese Aussprache wurde für mich schicksalhaft.« [[11]]
Hans-Jürgen Bracker bemerkt dazu in einem seiner Aufsätze über Müller: »Ein spirituelles, esoterisches Christentum, über und in allen Religionen verborgen wirkend und deren Gegensätze versöhnend, konnte Ernst Müller annehmen, ohne sich von seiner Zugehörigkeit zum Judentum zu lösen.«[[12]] Und so begann Müller sich in die Kabbala und deren zentrale Schrift, das Buch Sohar, zu vertiefen. Diese Studien führten zu einer lebenslangen Beschäftigung mit dem Sohar, den er mehrfach übersetzte und kommentierte. Diese Kommentare fanden – abgesehen von kritischen Bemerkungen von Gershom Scholem [[13]] – in der judaistischen Wissenschaft lobende Anerkennung.
So hebt etwa Gerold Necker in seinem Vorwort zur SoharÜbersetzung Müllers noch 2013 hervor, welche bedeutsamen Anregungen dieser durch Rudolf Steiner zu einem vertieften Verständnis der jüdischen Mystik und insbesondere des Sohar erhalten hat.[[14]] Es war wohl auch kein Zufall, dass Müller in Wien durch den Zyklus ›Mikrokosmos und Makrokosmos‹ zur Anthroposophie kam, ist doch das Verhältnis von Mikrokosmos und Makrokosmos und deren Entsprechung eines der Grundthemen der jüdischen Mystik und des Buches Sohar.
Seine ersten Sohar-Studien und Übersetzungen betrieb Müller laut eigenen Aussagen gemeinsam mit Hugo Bergmann 1911, also im Anschluss an die beiden Vortragszyklen Rudolf Steiners von 1910.[[15]] Und Müller wurde nicht müde zu betonen, wie sehr ihm Steiners Hinweise bei der Entschlüsselung der jüdischen Mystik geholfen hätten.[[16]] Dennoch wurde Müllers Bemühen um eine Vertiefung des esoterischen Judentums und dessen Verbindung zum esoterischen Christentum nach dem Ersten Weltkrieg misstrauisch beäugt. Einige Wiener Anthroposophen hielten eine Vermittlung von Anthroposophie und Judentum für unmöglich, und der 1921 erfolgte Wiederabdruck von Steiners kritischen Aufsätzen zum Zionismus, die ohne dessen Einwilligung erfolgte, führte bei Müller zu ernsthaften Erwägungen, aus der Anthroposophischen Gesellschaft wieder auszutreten.
Doch Müller blieb der anthroposophischen Sache treu, und nach dem Ersten Weltkrieg fanden sich in seinen Arbeitskreisen einige jüngere Mitglieder der zionistischen Bewegung ein, wie etwa Maria und Hella Spira, Otto Fränkl, Norbert Glas und dessen spätere Frau Maria Deutsch. Sie alle fanden durch die Arbeit mit Müller zur Anthroposophie. Und so intensivierte sich seine Tätigkeit für die Anthroposophische Gesellschaft nach der Weihnachtstagung 1923/24 nochmals, etwa durch einzelne Beiträge im Rahmen der mathematisch-astronomischen Sektion zu Tagungen. Denn auch diese Begabung hatte Rudolf Steiner wahrgenommen und ihn zur Beschäftigung mit mathematischastronomischen Fragen angeregt. So schreibt Müller in seinen unveröffentlichten Erinnerungen, dass Steiner ihm angesichts seiner Fragen zum Christus gesagt habe, dass dies für ihn kein Problem sein sollte, denn er »könnte der Bedeutung jenes Ereignisses durch astronomische Berechnungen nachgehen« [[17]].
Nach dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland gelang Müller 1939 die Emigration nach London, wohin ihm seine spätere Frau Frieda folgte, die er 1941 heiratete. Hier verbrachte er die letzten Lebensjahre bis zu seinem Tod 1954. »Leben und Vermächtnis Ernst Müllers«, so Hans-Jürgen Bracker, »rufen dazu auf, das Christentum durch das Studium des esoterischen Judentums und das Judentum durch das Studium des esoterischen Christentums immer tiefer kennen-, verstehen und lieben zu lernen.«[[18]] Diesem Anliegen diente auch Rudolf Steiner, indem er Müllers Lebensideal erkannt und gefördert hat.
Andreas Neider, Jahrgang 1958, Studium der Philosophie, Ethnologie, Geschichte und Politologie. 17 Jahre Tätigkeit im Verlag Freies Geistesleben, zunächst als Lektor und dann als Verleger. Seit 2002 Leiter der Kulturagentur ›Von Mensch zu Mensch‹. Seit zwölf Jahren Veranstalter der jährlichen Stuttgarter Bildungskongresse. Referent für Medienpädagogik in der Jugend- und Erwachsenenbildung. 2015 Mitbegründer der AKANTHOS-Akademie für anthroposophische Forschung und Entwicklung in Stuttgart. Zahlreiche Veröffentlichungen. Weitere Informationen unter www.andreasneider.de – Kontakt: aneider @gmx.de
[1] Vgl. zu Carl Unger und Adolf Arenson die umfangreiche Studie von Hartwig Schiller: ›Aller Anfang. Gründergestalten der anthroposophischen Arbeit in Stuttgart‹, Stuttgart 2020.
[2] Auf Rudolf Steiners Beziehung zum esoterischen Judentum kann ich im Rahmen dieser kurzen biografischen Skizze nicht näher eingehen. Vgl. Ralf Sonnenberg (Hrsg.): ›Anthroposophie und Judentum. Perspektiven einer Beziehung‹, Frankfurt a.M. 2009. Zu Ernst Müllers Biografie vgl. darin besonders die Beiträge von Hans-Jürgen Bracker und Nathanael Riemer, denen ich wesentliche Hinweise verdanke.
[3] Vgl. Rudolf Steiner: ›Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums‹ (GA 8), Dornach 1989, S. 150.
[4] Vgl. ders.: ›Über die Kabbala‹, in: ›Bewußtsein – Leben – Form‹ (GA 89), Dornach 2001.
[5] Vgl. ders.: ›Die Geheimnisse der biblischen Schöpfungsgeschichte‹ (GA 122) Dornach 1984.
[6] Bisher hat sich offenbar niemand die Frage gestellt, warum Rudolf Steiner anlässlich der Uraufführung des ersten Mysteriendramas in seinen Vorträgen gar nicht auf dessen Inhalt einging. In den Erinnerungen der Beteiligten, soweit diese dem Verfasser bekannt sind, taucht diese Frage nirgends auf.
[7] Vgl. Peter Norman Waage: ›Eine Herausforderung. Schmuel Hugo Bergmann und Rudolf Steiner‹, Dornach 2006.
[8] Vgl. Gerold Necker: ›Der Sohar. Das heilige Buch der Kabbala. In der Übersetzung von Ernst Müller‹, Wiesbaden 2013, S. 54.
[9] Vgl. Rudolf Steiner: ›Makrokosmos und Mikrokosmos‹ (GA 119), Dornach 1988.
[10] Ernst Müller: ›Mein Weg durch Judentum und Christentum‹, in: ›Judaica‹ 4/1952.
[11] A.a.O.
[12] Hans-Jürgen Bracker: ›Der Einzelne und die Einheit der Menschheit. Ein Hinweis auf den Zionisten und Anthroposophen Ernst Müller‹, in: ›Novalis‹ 5/1997, S. 8.
[13] Auf die Auseinandersetzung Scholems mit dem anthroposophischen Hintergrund Ernst Müllers kann ich hier nicht ausführlicher eingehen. Vgl. die in Anm. 2 erwähnten Beiträge von Hans-Jürgen Bracker und Nathanael Riemer.
[14] Vgl. Gerold Necker: op. cit., S. 18ff.
[15] So Bergmann in seinem Vorwort zu Ernst Müller: ›Der Sohar und seine Lehre‹, Zürich 1959, S. 15.
[16] Vgl. das Vorwort in Ernst Müller: ›Der Sohar und seine Lehre‹, Wien & Berlin 1920, S. 3.
[17] Zitiert nach Hans-Jürgen Bracker: ›Ernst Müller – Porträt eines Mitteleuropäers‹, in: ›Novalis‹ 2-3/1994, S. 18. Ein Digitalisat von Ernst Müller: ›Geistige Spuren in Lebenserinnerungen‹ findet sich unter https://digipres.cjh.org/delivery/DeliveryManagerServlet?dps_pid=FL6255953
[18] Ders.: ›Der Einzelne ...‹, S. 11.