Bausteine für eine diverse, antirassistische Waldorfpädagogik
Beitrag aus der Zeitschrift Erziehungskunst, November 2022. Wie lässt sich Antirassismus in den Lehrplänen der Waldorfpädagogik verankern, dass Schüler:innen sensibilisiert werden für Ausgrenzung und Diffamierung? Neben einer allgemeinen Empathieerziehung plädieren die Autoren unter anderem dafür, Rassentheorien zu behandeln, die im Zeitalter der europäischen Aufklärung entstanden sind. Dafür schlagen sie die neunte und zwölfte Klasse vor, wenn auch die großen Ideen der Freiheit, Gleichheit und Solidarität thematisiert werden.
«Die Waldorfbewegung ist weiß, wohlhabend und seltsam» (white, wealthy and weird) – so die Aussage von Monique Brinson in einem Interview auf Zeit Online im Februar 2020. Brinson war bis vor kurzem Schulleiterin der ersten Interkulturellen Waldorfschule in den USA in Oakland/Kalifornien, einer public school mit einer äußerst diversen Schülerschaft aus Latinos und Latinas, Afroamerikaner:innen, Asiat:innen und Euroamerikaner:innen. In der Waldorfbewegung, so Brinson in dem Interview, stelle sie selbst eine kleine Minderheit dar: People of Color seien selten und die wenigen, die es gebe, kämen aus der Mittelschicht. Mit ihrem Verweis auf die fehlende Diversität legt Brinson eine Wunde der Schulbewegung frei. Die Datenlage ist dürftig, aber eines wird nicht zu bezweifeln sein: Die im deutschen Schulsystem am meisten benachteiligte Gruppe – Schüler:innen mit Migrationshintergrund aus ökonomisch schwachen sozialen Schichten – ist an den Waldorfschulen kaum vertreten. (1) Die Schüler:innenschaft der Waldorfschulen ist relativ homogen und ist keinesfalls ein repräsentativer Ausschnitt aus der Gesellschaft, in der inzwischen mehr als ein Drittel der Kinder und Jugendlichen einen Migrationshintergrund haben und / oder Deutsche of Color sind.
Es ist notwendig, eine solche Feststellung vor der Folie des gegenwärtigen Diskurses um Diskriminierung und Rassismus in angemessener Weise zu gewichten. Dabei ist die Auffassung, Rassismus sei zu assoziieren mit Hitler, Ku-Kux-Klan und dem Anzünden von Unterkünften für Geflüchtete und erschöpfe sich in vorsätzlichen rassistischen Handlungen, in den letzten Jahren zurecht als unzureichend entlarvt worden.
Gesellschaftlich wirksamer sind vielmehr gerade die nicht-intendierten Formen des Ausschlusses beziehungsweise der Benachteiligung von Gruppierungen «auf der Grundlage tatsächlicher oder zugeschriebener biologischer oder kultureller Eigenschaften». Man spricht in solchen Fällen von strukturellem Rassismus und weist damit darauf hin, dass sich über Jahrhunderte hinweg durch Kolonialismus und Nationalstaat Formen gesellschaftlicher Herrschaft herausgebildet haben, die Menschen aufgrund ihres Aussehens, ihrer Sprache, ihrer Religion oder ihrer Herkunft systematisch benachteiligen; wenn diese systematische Benachteiligung regelhaft in bestimmten Organisationen, Sektoren oder Branchen – etwa bei Polizei und Justiz, beim Wohnungs-und Arbeitsmarkt oder bei der Bildung – auftritt, bezeichnet man das als institutionelle Diskriminierung.
Wie lässt sich vor diesem theoretischen Hintergrund die Waldorfbewegung einordnen? Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass im Blick auf die Zusammensetzung der Schüler:innenschaft hier eine zwar nicht intendierte, aber doch faktisch existente Selektion vorliegt und es daher durchaus berechtigt ist, von institutioneller Diskriminierung von Menschen mit Migrationshintergrund im Kontext eines strukturellen Rassismus zu sprechen.
In Deutschland versuchen die Interkulturellen Waldorfschulen in Mannheim, Berlin und Dresden eine alternative Praxis mit weitaus größerer Diversität zu realisieren; zudem hat sich ein Arbeitskreis interkultureller, sozial-integrativer Initiativen gebildet, der eine dezidiert antirassistische Waldorfpädagogik einfordert. In diesem Kontext sollen auch Elemente des Lehrplans und der vorliegenden Unterrichtsmaterialien kritisch hinterfragt werden. Erste Überlegungen und Beispiele seien angeführt.
Der Lehrplan bietet Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, sich mit den anstehenden Entwicklungsaufgaben auseinanderzusetzen. Einige dieser Aufgaben sind biografisch und haben mit der Fähigkeit zu tun, stabile und kohärente Identitäten aufzubauen, während andere auf dem sozialen und kulturellen Feld liegen und sich auf die Fähigkeiten und das Wissen beziehen, die für ein friedliches Zusammenleben in der Gesellschaft notwendig sind. In Anbetracht der Tatsache, dass wir in einer kulturell vielfältigen und vielfach vernetzten Welt leben, handelt es sich dabei um die Fähigkeiten zur Empathie und zu einem erzählerischen Einfühlungsvermögen (die Kompetenz, die Geschichte eines anderen aus dessen Perspektive zu erzählen), um ein Verständnis für die kulturelle, religiöse und weltanschauliche Vielfalt sowie um die Fähigkeit zur demokratischen Beteiligung.