Im Niemandsland
Vom Umgang mit Rassismus- und Antisemitismus-Vorwürfen gegen Rudolf Steiner und die Anthroposophie. Dieser Artikel ist zuerst erschienen in der Zeitschrift "DieDrei", Ausgabe März/April 2021.
»Die Anthroposophie als Grundlage der Waldorfpädagogik richtet sich gegen jede Form von Rassismus und Nationalismus. Die Freien Waldorfschulen sind sich bewusst, dass vereinzelte Formulierungen im Gesamtwerk Rudolf Steiners nach dem heutigen Verständnis nicht dieser Grundrichtung entsprechen und diskriminierend wirken.« [1] – Dieses Zitat stammt aus der ›Stuttgarter Erklärung‹ von 2007, in welcher sich der Bund der Freien Waldorfschulen von den vermehrt seit der Jahrtausendwende gegen die Anthroposophie erhobenen Rassismus- und Antisemitismusvorwürfen distanziert.
Doch während das Demonstrieren eines Problembewusstseins manchen Anthroposophen progressiv bis revolutionär erscheinen mag, nimmt sich dieses in der Außenwahrnehmung bestenfalls wie ein halbherziges, nur auf externen Druck zustande gekommenes Minimalzugeständnis aus. Daran ändert auch die im November 2020 neu aufgelegte Fassung mit entsprechend geschichtssensiblen Nachjustierungen nicht viel: Die »vereinzelten Formulierungen« seien demnach von »einer rassistisch diskriminierenden Haltung der damaligen Zeit mitgeprägt«– eine Lesart des kleinsten gemeinsamen Nenners also, welche die Bereitschaft der Verfasser signalisiert, die Entstehung des Steinerschen Werkes in einem historisch-gesellschaftlichen Kontext zu verorten, in dem weite Kreise des europäischen Bildungsbürgertums ganz selbstverständlich von der eigenen Überlegenheit ausgingen und Erklärungsmuster, welche Völker und Kulturen nach bestimmten Merkmalen hierarchisierten, über die Grenzen des politisch rechten Lagers hinaus das Bewusstsein vieler bestimmten.
Kritiker legen, ungeachtet der Motive ihrer oft ebenso fundierten wie einseitigen Geschichtsbetrachtungen, ihren Finger in eine Wunde, die anzuschauen uns Anthroposophen in der Regel schwerfällt: Denn nach »heutigem Verständnis« – sofern man darunter den Primat eines eher linksliberal-szientistisch geprägten, die geistige Individualität in Abrede stellenden, gesellschaftlichen Paradigmas versteht – sind einige der rassenkundlichen Aussagen und Klassifikationen Rudolf Steiners diskriminierend, sie wirken also nicht nur so. Mehr noch: Manche dieser Äußerungen sind rassistisch, weshalb das einen magischen Bannkreis ziehende Als-ob selbst wohlmeinenden Interpreten vielfach als eine spezifische Spielart der anthroposophischen Geschichtsverbrämung gilt.
Hinzu kommt ein sich in den letzten Jahren rasant vollziehender Bewusstseinswandel, dessen Tragweite Anthroposophen meines Erachtens oft unterschätzen: Vieles von dem, was noch vor einigen Jahren zum Thema Rassismus zur Verteidigung sagbar erschien, nimmt sich vor dem Hintergrund einer weltweit zunehmenden Sensibilisierung für Diskriminierungen aufgrund biologischer Zugehörigkeiten inzwischen wie das Echo eines fernen Jahrhunderts aus.
Dabei haftet diesem sich vor allem in westlichen Gesellschaften vollziehenden Umbruch durchaus etwas Janusköpfiges an: Mag einerseits zugestanden werden, dass die vermehrt unter jüngeren Menschen auftretende Hellfühligkeit für Diversität im Geschlechterverhältnis und Zusammenleben von Religionen und Ethnien ähnlich wie die Sorge um den Fortbestand des Planeten oder das Tierwohl eine Mitgift aus dem Vorgeburtlichen darstellt, so ist andererseits nicht zu übersehen, dass die aus der geistigen Welt ins irdische Dasein hinübergeretteten Motive bei mangelnder Bewusstmachung stets Gefahr laufen, für (identitäts-)politische und wirtschaftliche Sonderinteressen missbraucht zu werden. In einer von reichlich Betroffenheitspathos bis hin zur Cancel Culture [2] bestimmten »Gegenwart 4.0«, in der darüber gestritten wird, ob das Tragen von »Indianerschmuck« auf einem Kindergeburtstag oder der Bühnenauftritt des Othello durch einen schwarz angepinselten Weißen »kulturelle Aneignung« seien, welche »Rassisten« in die Hände spiele, und zugleich Garden kulturrevolutionärer Akteure zum Bildersturm gegen alles Europäisch-Westliche blasen, auf dessen Schultern sie gleichwohl nicht nur in kultureller Hinsicht stehen, können Beschwichtigungen der nachfolgenden Art nur verlieren:
»Es existieren in der Tat im Werk Steiners eine Reihe merkwürdig erscheinender Formulierungen zum Thema »Rasse«. Gewichtet man jedoch den Wortgebrauch im Gesamtkontext der Anthroposophie, kann bei unbefangener Prüfung gesehen werden, wie Steiner das Gegenteil von Rassismus vertritt. Wenn Anthroposophen, Waldorflehrer usw. aber dennoch rassistisch tingierte Verhaltensweisen manifestieren, müsste dem entschlossen entgegentreten werden.«[3]
Keime zur Historisierung
Erscheinen von dem Anthroposophie-Begründer verwendete Stereotypen wie die karmisch zum »Aussterben« verurteilten Indianer [4], die im Triebleben verharrenden Schwarzafrikaner, [5], die kulturell degenerierten Asiaten [6] oder die zur bildenden Kunst und zum Medizinerberuf nur bedingt tauglichen Juden [7] aus einem Abstand von einem Jahrhundert tatsächlich nur merkwürdig? Oder verkennt der bagatellisierende Duktus und die Fixierung auf einzelne »Formulierungen« nicht vielmehr das Problem auch inhaltlicher Überschneidungen mit dem rassentheoretischen Diskurs jener Zeit, der, obzwar er fraktionsübergreifend verlief und somit keinesfalls nur auf völkische und theosophische Kreise begrenzt blieb, gerade in diesen auffällig viele Mitstreiter fand? Und lassen sich Denkfiguren der genannten Art tatsächlich nur als »Formulierungen« auffinden – oder verweisen sie nicht vielmehr auch auf ein strukturelles Problem, das die Anthroposophie womöglich infolge ihrer an der Deszendenztheorie orientierten Geschichtshermeneutik, welche den Aufstieg und Fall von Rassen, Völkern und Kulturen vorsah, als eine unbewältigte Erblast mit sich führt?
Ungeachtet dessen, dass der Begriff des »Aussterbens« einen Euphemismus für den millionenfachen Genozid an den Indigenen Amerikas darstellt und seine lapidare Einflechtung im Sinne einer fatalistischen Engführung des Karmagedankens missverstanden werden konnte [8], ein erstaunlich viriles Japan und China der westlichen Welt mittlerweile in vielem den Rang streitig machen, Juden als bildende Künstler reüssieren und jüdischen Ärzten, deren Überrepräsentanz Steiner wegen ihrer angeblichen Neigung zu einer »abstrakten Jehova-Medizin « einmal beklagte [9], neuesten Forschungen zufolge eine nicht unbedeutende Aufgabe bei der Etablierung naturheilkundlicher Medizin seit dem Mittelalter zufiel [10], stellt sich heute die Frage: Lässt sich Steiners zutiefst eurozentrisches Selbstverständnis – demzufolge die Weißen die »zukünftige, da am Geiste schaffende Rasse« [11] darstellen und gewissermaßen einen Idealtypus repräsentieren, auf dessen Kontrastfolie sich die Angehörigen nichteuropäischer Kulturen meist eher defizitär ausnehmen – nach zwei Weltkriegen samt Genoziden, der weltweiten Entkolonialisierung, der Ausbreitung multikultureller Gesellschaften, der schwarzen Bürgerrechtsbewegungen sowie dem Erscheinen asiatischer Staaten auf der Bildfläche überhaupt in eine Form übersetzen, deren Inhalte frei von rassistischen und kulturchauvinistischen Untertönen wäre? Oder ist ein Vorhaben, das die herausragende Bedeutung unseres Kontinents im Hinblick auf die Entstehung von Wissenschaften, Künsten und Gesellschaftssystemen ebensowenig leugnet wie damit einhergehende Manifestationen des Doppelgängers in Gestalt von Kolonialismus, Imperialismus und Nationalismus schon vom Ansatz her zum Scheitern verurteilt, wie Kritiker argwöhnen, die darin eine Spielart des »Kulturrassismus « vermuten?
Mag die Anthroposophie auch dem Einzelnen das geistige Potenzial zuschreiben, kollektive Prägungen nach und nach zu überwinden, da sie diesen im Unterschied zu den gegenwärtig vorherrschenden wissenschaftlichen Anschauungen nicht mit den Gewändern seines In-Erscheinung-Tretens verwechselt, und mag der Reinkarnationsgedanke einen Aufstieg der individuellen Menschenseele durch die verschiedenen Varietäten hindurch verheißen, sodass den Nichtweißen, »obgleich man uns entgegenhalten kann, dass der Europäer gegen die schwarze und die gelbe Rasse einen Vorsprung hat, doch keine eigentliche Benachteiligung « [12] daraus erwächst: Anthroposophen tun gut daran, diese und andere Aussagen Rudolf Steiners in den Zeit8 kontext ihrer Entstehung einzubetten, sie zu hinterfragen und am Ende auch zu historisieren.
Zugutekommen könnte ihnen hierbei der Umstand, dass dieser selbst an vielen Stellen seines Werkes den Keim zur Überwindung eben dieser Stufenleiter legte:
»Heute schon sehen wir, wie im Grunde genommen die Kultur nicht mehr getragen wird von einer führenden Rasse unmittelbar, sondern wie die Kultur sich über alle Rassen ausbreitet. Und die Geisteswissenschaft soll ja gerade dasjenige sein, was ohne Unterschied der Rasse und Stämme die Kultur über die ganze Erde trägt, insofern die Kultur Geisteskultur ist.«[13]
Das war, auf dem Zenit des spätkolonialen und imperialen Zeitalters ausgesprochen, durchaus vorausschauend, ebenso wie die einige Jahre später gegebene Zusicherung, dass der Rassenbegriff immer mehr an Bedeutung verliere und die Menschen unabhängig von Hautfarbe und Abstammung »aufeinander angewiesen « und daher bereits von ihrer »Naturanlage« her zur gegenseitigen Hilfe bestimmt seien. [14]
Begriffe wie Wurfgeschosse
Was auffällt: Weder Gegner noch Apologeten unternehmen in der Regel den Versuch, von ihnen verwendete Termini wie »Sozialdarwinismus«, »Rassismus«, »Nationalismus« oder »Antisemitismus « genauer zu umreißen. Stattdessen hantiert man auf beiden Seiten mit semantisch schillernden, politisch hochgradig aufgeladenen Variablen, die je nach Intention und Standpunkt bald als Kontrastfolien zur Selbstverteidigung und Abgrenzung, bald als Nachweise für Affinitäten oder Schnittmengen herhalten können. In den Debatten etwa zu der Frage, ob Rudolf Steiners Forderung einer bedingungslosen Assimilation der zeitgenössischen Juden einer antijudaistischen Grundhaltung entsprang, sie nur die äußerste Konsequenz seiner individualistisch-philosophischen Abneigung gegenüber normativen Zwängen darstellte oder einer Mischung aus beidem ihr Dasein verdankte, ging es nicht ausschließlich um inhaltliche Argumente, sondern sehr häufig auch um die Verteidigung von Deutungshoheiten mit entsprechender Signalwirkung nach außen. [15] Ohne nähere Begriffsklärungen laufen jedoch Analysen und die aus ihnen gezogenen Folgerungen Gefahr, zu beliebig einsetzbaren Wurfgeschossen zu werden. Dabei mögen die Gründe für derlei Zurückhaltung durchaus spiegelbildlicher Natur sein: Kritiker befürchten wohl, mit der Feinstellung des Okulars und der damit einhergehenden Sichtbarmachung von Differenzen ihr Ziel, die Anthroposophie als rassistische und irrationale Ideologie zu entlarven, aus den Augen zu verlieren und sich den Vorwurf einzuhandeln, sie distanzierten sich nicht ausreichend scharf von dieser Weltanschauung. Demgegenüber argwöhnen Anthroposophen offenbar, im Fall des genaueren Hinschauens und Benennens das Bild Rudolf Steiners durch den Aufweis von Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten einzutrüben: Steiner war kein Rassist und Antisemit – obwohl er rassistische und antijudaistische Aussagen hinterlassen hat. Wie soll das zusammengehen?
Dort, wo von anthroposophischer Seite eine begriffliche Eingrenzung gleichwohl versucht wird [16], wäre zu fragen, ob eine auf Kerncharakteristika wie die Behauptung eines genetischen Determinismus, rechtliche Diskriminierung, Segregation, Unterwerfung oder Vernichtung reduzierte Definition den vielfältigen, mitunter sehr diffizilen Erscheinungsweisen von biologischem und kulturellem Rassismus überhaupt gerecht zu werden vermag. Die gesamte Palette alltäglicher Vorurteile, selektiver Wahrnehmungen und unterschwelliger Abneigungen in per definitionem antirassistischen und liberalen westlichen Gesellschaften, wie sie etwa die Domäne der Vorurteils- und Privilegienforschung der letzten Jahre bildete, droht hierbei aus dem Sichtfeld zu geraten [17].
Ein Beispiel mag dies demonstrieren: Eric Hurner, ehemaliger Waldorflehrer in Johannesburg und in Alexandra Township, schildert in seiner autobiografischen Skizze, wie die unter Kollegen und Eltern vorherrschende Ablehnung der Apartheidspolitik, welche sich in der Gründung integrativer Schulen niederschlug, gleichwohl in manchen Fällen von einer paternalistischen Haltung gegenüber den autochthonen Kulturen getragen war. Diese entstammte neben Alltagserfahrungen kultureller Unterschiede auch dem Erbe des europäischen Kolonialismus, das sich mit Aussagen Rudolf Steiners untermauern ließ, denen zufolge etwa die Schwarzafrikaner das Kindliche und die Weißen das Erwachsene in der Menschheitsfamilie repräsentierten. Vormundschaftliches Gebaren der Zivilisationsbringer gegenüber den Rückständigen lag vor diesem Überlieferungshintergrund zum Greifen nahe, blieb aber gemäß den Erfahrungen Hurners trotzdem eher eine Randerscheinung [18]. Der scheinbare Widerspruch löst sich auf, sofern man berücksichtigt, dass aus ein und derselben Denkfigur völlig unterschiedliche Handlungsmotive gewonnen werden können. Der Religionswissenschaftler Ansgar Martins arbeitet in einer Studie zum Geschichtsverständnis Steiners heraus, dass dessen gegenwärtig unter Beschuss geratenen Aussagen zu Rassen und Kulturen nicht nur mit seinem Evolutionsdenken eng verflochten sind, sondern diese ihre inhaltliche Rechtfertigung aus jenem überhaupt erst beziehen. Der Verweis auf die entwicklungsfähige geistige Individualität von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Abstammung, von Anthroposophen gern als antirassistisches Ausschlussargument vorgebracht, könne diese daher nur bedingt von Kritik entlasten [19]. Hurners südafrikanische Erfahrungen scheinen diese These zu stützen: Anthroposophische Emanzipations- und Fortschrittsideale konnten sowohl einen kulturellen Rassismus nähren als auch diesem seine ideelle Grundlage entziehen.
Das Judentum als Kontrastfolie
Konsens besteht weitgehend in einem: Weder Rudolf Steiner noch jüngst vermehrt wegen entsprechender Textstellen ins Visier der Kritik geratene Idealisten wie Immanuel Kant, Johann Gottlieb Fichte oder Georg Wilhelm Friedrich Hegel waren »Rassisten« in dem Sinne, dass sie die biologische Zugehörigkeit von Menschen zu einer Varietät absolut setzten und daraus imperiale, kolonialistische oder gar eugenische Imperative ableiteten. Das Adjektiv »sozialdarwinistisch«, wie es etwa Helmut Zander in seinen früheren Arbeiten gebraucht [20], erweist sich zudem als hochgradig irreführend im Hinblick auf ein Verständnis der Intentionen Steiners, die gerade nicht auf den »Kampf ums Dasein«, imperiales Hegemonialstreben oder Rassensegregation abzielten, sondern deren Überwindung galten. Deutlicher als die meisten seiner liberalen Zeitgenossen erklärte Steiner auf dem Höhepunkt des Ersten Weltkriegs:
»[E]in Mensch, der heute von dem Ideal der Rassen und Nationen und Stammeszugehörigkeiten spricht, der spricht von Niedergangsimpulsen der Menschheit. Und wenn er in diesen sogenannten Idealen glaubt, fortschrittliche Ideale vor die Menschheit hinzustellen, so ist das die Unwahrheit. Denn durch nichts wird sich die Menschheit mehr in den Niedergang hineinbringen, als wenn sich die Rassen-, Volks- und Blutsideale fortpflanzen.« [21]
Die Geschichtsnarrative der Philosophen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bewegten sich gleichwohl in dem Deutungshorizont der Aufklärung, in dem trotz oder gerade wegen des ihm eigenen Universalismus und Fortschrittsdenkens Vorurteile gegenüber Angehörigen nichteuropäischer Kulturen, die man meist nur vom Hörensagen kannte, sowie eine rigide Ablehnung des historisch »überholten« Judentums einen kulturellen Code bildeten. Historiker sprechen hier von einem dem Weltbild der christlichen Aufklärer inhärenten Antisemitismus, insofern etwa nicht nur bestimmte Erscheinungsweisen des Diasporajudentums einer legitimen Kritik unterzogen wurden, sondern diesem in toto seine Daseinsberechtigung als Religion abgesprochen wurde. Kants Diktum von einer erstrebenswerten »Euthanasie des Judentums« [22] sowie Steiners zeit seines Lebens aufrechterhaltene Forderung nach Totalassimilation der jüdischen Minderheit galten zwar in erster Linie der Ablehnung der »statutarischen Religion« und der dem Geist der Moderne widerstrebenden jüdischen Partikularismen, zu denen sich ab Ende des 19. Jahrhunderts noch die aufstrebende zionistische Bewegung hinzugesellte, doch schwang in der Rede von dem »Geist des Judentums« und der »jüdischen Denkweise«, die »den abendländischen Kulturideen nichts weniger als günstig« gewesen seien, stets der Unterton der älteren kirchenchristlichen, nunmehr im Fortschrittsgewand auftretenden antijudaistischen Verachtung mit. Deren Protagonisten weigerten sich, die Vielfalt jüdischen Lebens in Europa überhaupt zur Kenntnis zu nehmen und die »Gesetzesreligion«, welche in dieser Starrheit nie existiert hat und zum Teil ein von lutherischen Reformatoren ersonnenes Konstrukt darstellte, anders als durch den Filter binären Ausschlussdenkens wahrzunehmen. An der Binnenrealität der mehrheitlich von der Aufklärungsbewegung ›Haskala‹ erfassten westjüdischen Gemeinden zielte aber der Vorwurf der Abgeschlossenheit und Rückständigkeit, wie ihn auch der junge Steiner in seiner ›Homunkulus‹-Rezension von 1888 erhob, zu diesem Zeitpunkt schon vorbei. [23]
»Rassismus« und »Antisemitismus« sind vor diesem Hintergrund also Kategorien, die nicht nur auf ein biologistisches, die Menschheit nach unabänderlichen »genetischen« Merkmalen klassifizierendes Denken abstellen, dem meist die Forderung nach Entrechtung, Segregation oder Schlimmerem inhärent ist, sondern die auch Manifestationen einer kulturell begründeten Abneigung bzw. Feindschaft einschließen. Diese konnten von der Verweigerung von Bürgerrechten, über Verfolgungen bis hin zu Pogromen bzw. ethnischen Säuberungen reichen – oder auch »nur«, wie es in Bezug auf das Judentum Usus war, das Existenzrecht einer Religion insgesamt in Abrede stellen. Beide Formen traten geschichtlich entweder eher getrennt oder vereint auf, wobei sich ab dem letzten Quartal des 19. Jahrhunderts, mit dem Aufkommen der modernen Naturwissenschaften, zunehmend die rassenbiologische Variante durchzusetzen begann.
Anthroposophen und Drittes Reich
In den letzten Jahren haben sich Schüler Rudolf Steiners wiederholt mit den gegen die Anthroposophie in Stellung gebrachten Rassismus- und Antisemitismusvorwürfen auseinandergesetzt. Die anfängliche Abwehrhaltung, der oft wenig Neigung anzumerken war, sich auf das Berechtigte mancher Argumente einzulassen, wich der Bereitschaft, doch einiges »Problematische « sich und der Umgebung einzugestehen. Eine Verteidigungsstrategie nach Art der Salamitaktik aber, der im Gerichtssaal Erfolg beschieden sein mag, erweist sich auf dem Feld der wissenschaftlichen Auseinandersetzung als eher nachteilig, fordert sie doch das Misstrauen der Öffentlichkeit heraus, während sie zugleich den Blick auf blinde Flecken der vorgebrachten Entlastungsargumente lenkt.
Im Mittelpunkt der Studien akademischer Autoren wie Helmut Zander, Ansgar Martins [24] , Peter Staudenmaier [25] oder Jan- Erik Ebbestad Hansen [26] steht die Frage, ob oder inwieweit anthroposophische Anschauungen Affinitäten zu völkischnationalistischen Ideologemen aufweisen, sich einzelne oder zentrale Elemente der Anthroposophie als »anschlussfähig « in Bezug auf die nationalsozialistische Ideologie erwiesen haben und ob derartige Schnittmengen Anthroposophen gar anfälliger als andere gesellschaftliche Gruppen für die NS-Propaganda machten. Die Untersuchung dieser für Historiker nicht ungewöhnlichen Fragestellung ging allerdings im Getöse des beiderseitigen Schützenfeuers unter: Der anthroposophische Part bestritt in der Regel, dass es solche Affinitäten überhaupt gibt, und verwahrte sich mit dem Hinweis auf den kosmopolitischen, an der Individualität orientierten Geist der Anthroposophie gegen eine solche Unterstellung, während die Gegenseite vermeintliche Affinitäten und Konvergenzen oft derart in den Vordergrund rückte, dass dem widersprechende Beispiele und Argumente aus dem Blick zu geraten drohten. Vielfach entstand so ein »wissenschaftliches« Zerrbild der Anthroposophie, das von vielen Medien bereitwillig aufgegriffen und kolportiert wurde – ein Hohlspiegel, in dem sich Anthroposophen nicht wiedererkennen konnten und dessen verzerrende Wirkung engagierte Publizisten wie Robert Rose oder jüngst Peter Selg [27] zum Widerspruch herausforderten. Demgegenüber beklagten Kritiker die mangelnde Dialog- und Kritikfähigkeit von Vertretern dieser Bewegung, denen sie eine dogmatische Anhänglichkeit gegenüber der Gründergestalt attestierten.
Um es gleich vorwegzunehmen: Gemäß aktuellem Forschungsstand, etwa im Hinblick auf das Verhalten von Medizinern und Heilpädagogen während des Dritten Reichs, waren Anthroposophen nicht anfälliger als z.B. konfessionelle Gruppierungen, etwa des katholischen Spektrums, für Einflüsterungen der NS-Propaganda. Sympathisanten des Regimes und vereinzelt auch überzeugte Nationalsozialisten gab es unter diesen zwar, aber sie stellten eine Minderheit dar, sofern man das einem Balanceakt über dem Abgrund gleichende Lavieren zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik, zu dem sich etwa viele der um den Erhalt ihrer Einrichtungen fürchtenden Pädagogen veranlasst sahen, nicht vorschnell als moralisches Versagen oder gar Kollaboration abzutun bereit ist. [28] Zu den Mitgliedern der anthroposophischen Bewegung gehörten zudem nicht nur überproportional viele Menschen jüdischer Herkunft, sondern vereinzelt auch solche, die dem aktiven Widerstand verbunden waren. Dies betraf neben Karl Rössel- Majdan und Erna Strahl auch Traute Lafrenz, eine enge Wegbegleiterin und Freundin Sophie Scholls, die nach dem Krieg wesentlich am Aufbau der Anthroposophischen Gesellschaft in den USA mitwirkte. [29] Die »Geschichte vieler jüdischer Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft zu Flucht, Emigration und Ermordung während der Shoa ist bisher ungeschrieben«, umriss jüngst Philipp Karschuck ein Desiderat der Historienschreibung. [30] Diese Einschätzung gilt weniger für Maria Krehbiel-Darmstädter, Viktor Ulmann (beide in Auschwitz ermordet) und Ilse Rennefeld, zu denen bereits Biografien existieren, als vielmehr für Albrecht Sellin, Adolf Arenson, Ludwig Thieben, Norbert Glas, Ernst Müller und den aus Wien emigrierten Kinderarzt Karl König, den Begründer der heilpädagogischen Camphill-Bewegung.
Doch es gibt auch die Kehrseite: Doppelmitgliedschaften in der Anthroposophischen Gesellschaft und völkischen Organisationen wie der Guido-von-List-Gesellschaft kamen vor und sind, was Ausmaß und Grad der Verstrickung anbelangt, bisher kaum erforscht. Ähnliches gilt auch für das Veröffentlichen antisemitischer Kommentare, für das sich Autoren wie Alf Larsen, der dem Faschismus allerdings ablehnend gegenüberstand, Helga Geelmuyden oder Massimo Scaligero, die mit diesem offen sympathisierten, hergaben – wohl in der irrigen Absicht, sich damit den herrschenden Zeitgeist gewogener zu machen. Dies und der Umstand, dass sich einige deutsche Anthroposophen durch den regierungsamtlich legitimierten und forcierten Antisemitismus in eigenen antijudaistischen Ressentiments bestätigt sahen und in ihrer Germanophilie eine Art Fortsetzung der Mitteleuropa- Emphase Rudolf Steiners erblickten, führen vor Augen, dass klare Grenzziehungen gegenüber den völkischnationalistischen Tendenzen jener Zeit in einer Reihe von Fällen entweder gar nicht erst erfolgten oder aber misslangen.
Deutschidealistische Idolatrien
Auch wenn die Anfälligkeit des genannten Personenkreises für derartiges Gedankengut nicht repräsentativ gewesen sein dürfte, so legt ihr Vorhandensein gleichwohl den Verdacht nahe, dass gedankenassoziative Exkurse zu Völkermissionen und Volksseelen, aufstrebenden und vergreisenden Rassen, jungen und überalterten Kulturen prekäre Gratwanderungen darstellten, die hermeneutisch zu meistern ein hohes Maß an kritischer Distanz, Differenzierungsvermögen und Reflexion voraussetzte. Die Studien von Peter Staudenmaier über die Verstrickung einzelner italienischer Anthroposophen in den Faschismus der 30er und 40er Jahre oder die Arbeiten von Jan- Erik Ebbestad Hansen über den in der norwegischen Gesellschaft grassierenden Antisemitismus, den einige Autoren aufgriffen, mit Zitaten Rudolf Steiners zu Jahwe-Elohim als Inspirator nationaler Separierungen untermauerten und das Ergebnis zu dem Verschwörungskonstrukt einer germanisch-jüdischen Weltgegensätzlichkeit emporstilisierten, lassen keinen Zweifel darin aufkommen, dass es in dessen vielschichtigen Darstellungen der Entwicklung von Kulturen und Völkern Elemente gab, die sich selektiv ausbeuten und missbrauchen ließen.
Hinzu kommt: Ein Binnenmilieu wie das anthroposophische, in dem nicht nur ein ausgeprägter Personenkult gegenüber den »Meistern«, sondern überhaupt gegenüber allem Deutschidealistischen vorherrschte, deren Größen man häufig ohne Sinn für Schattierungen auf Podeste stellte, bot offenbar einen geeigneten Resonanzboden auch für autoritäres Denken. Dieses konnte in und neben den freiheitsphilosophischen und sozialreformerischen Idealen der Anthroposophie ein oft unerkanntes Doppelgängerdasein führen, ohne diese allerdings jemals vollständig in den Hintergrund treten zu lassen.
Der Vorwurf des „strukturellen Rassismus“
Die von Wissenschaftlern wie Helmut Zander und Peter Staudenmaier geäußerte Fundamentalkritik an der Anthroposophie entzündet sich neben dem Antisemitismusvorwurf vor allem an zwei Fragenkomplexen. Erstens: Wohnt dem Geschichtsnarrativ Rudolf Steiners, der ein begeisterter Befürworter der Deszendenztheorie Ernst Haeckels war, ohne deren naturalistischen Grundlagen und Implikationen zu teilen, ein Rassismus struktureller Art inne, auf dem auch das Menschenbild der Anthroposophie aufbaut? Und zweitens: Öffnet seine mit romantisch-idealistischem Vokabular operierende Völkerpsychologie eine Flanke gegenüber völkischem Denken selbst dort, wo ihr Urheber die Zielsetzungen der politisch Rechten ausdrücklich ablehnt?
Auch wenn man zugesteht, dass »Wurzelrassen« nach dem Verständnis Steiners vor allem Bewusstseinsstadien einer sich aus biologischen Abhängigkeiten in unterschiedlichem Maße emanzipierenden Menschheitsfamilie darstellen und dessen Bevorzugung des »Kulturepochen-«Begriffs gegenüber der älteren theosophischen Periodisierung »Unterrasse« eine deutliche Distanzierung von rechtsesoterischen Adaptionsversuchen erkennen lässt, stellt sich die Frage: Ist diesem auf der Kosmogenese Helena P. Blavatskys beruhenden, von Haeckels Abstammungslehre beinflussten Entwicklungsmodell der Rassismus nicht geradezu strukturimmanent? Dieser Verdacht mag sich umso nachdrücklicher aufdrängen, als die auf dem Wurzelrassen- und Kulturzeitaltermodell fußende Geschichtsteleologie der die kulturelle Stafette weiterreichenden Ethnien und Epochen in (Mittel-)Europa einen vorläufigen Gipfelpunkt anvisiert. Die selbstreferentielle Logik dieser Abfolge, der zufolge die Europäer und unter diesen vor allem die Deutschen die potenzielle Avantgarde der Kulturträger bilden, stellt in der Tat für heutige Leser eine Herausforderung dar.
Doch das Etikett »struktureller Rassismus«, sofern diesen als kleinsten gemeinsamen Nenner ein rassenbiologisch argumentierender und klassifizierender Determinismus auszeichnet, der von seinen Anhängern als »naturgegeben« betrachtet und dementsprechend verteidigt wird, erweist sich im Hinblick auf eine Charakterisierung der Anthroposophie als unzutreffend. Die kardinale Zuversicht Rudolf Steiners bestand gerade darin, dass die Angehörigen aller Ethnien und Kulturen über das Potenzial verfügen, sich im Verlauf ihrer Geschichte aus biologischen und kulturellen Kollektiven schrittweise herauszulösen. Ein »struktureller Rassismus« aber, der darauf abzielte, sich seines eigenen Fundamentes zu berauben, führte sich selbst ad absurdum . Anders sähe die Sachlage aus, wenn es sich bei den philosophisch-spirituellen Freiheitsidealen Steiners, seinen vielfältigen Aktivitäten und mannigfachen Distanzierungen von nationalistischen und völkischen Gedanken nur um Beiläufigkeiten handelte, welche das Gravitationszentrum seiner Weltanschauung entweder nicht oder nur in geringem Maße berührten. In diesem Fall müssten auf rassistische und antisemitische Einstellungen hindeutende Belege den Dreh- und Angelpunkt des anthroposophischen Geschichts- und Selbstverständnisses darstellen, dem gegenüber sich Elemente anderer oder gar gegenteiliger Aussagekraft als nachrangig herausstellten. Im Fall der den Individuations- und Freiheitsgedanken im Sinne des völker- und kulturenumgreifenden Christus-Impulses ins Zentrum rückenden Anthroposophie ist dies jedoch nachweislich nicht der Fall.
Janusgesicht der Moderne
Wie steht es aber um den Einwand des »Kulturrassismus«, sofern man darunter ein Denken in Vorurteilen und die pauschale Abwertung fremder Kulturen versteht? Dieser trifft in Teilbereichen – wie oben anhand von Beispielen nachzuweisen versucht wurde – zu, gerät jedoch ins Wanken, sobald er aufs Ganze zielt. Denn die Ablehnung eurozentrischer Geschichtsnarrative und Deutungshoheiten bis hin zu den Exzessen der modernen Ikonoklasten speist sich aus dem unauflösbaren Paradoxon, sich einerseits des als bedrückend erlebten »weißen« Kulturerbes mittels einer retrospektiven Vergangenheitskorrektur entledigen zu wollen, während andererseits der das Ansinnen stützende Wertekanon eben dieser Matrix selbst entstammt. So verdanken gesellschaftliche Umbrüche wie die Judenemanzipation Ende des 19. Jahrhundert oder das Aufkommen von Bürgerbewegungen wie »Black Lives Matter« ihre egalitäre Stoßkraft eben jenem Erbe europäischer Aufklärung, dessen hegemonialer Geltungsanspruch gegenwärtig zugleich unter Rassismusverdacht steht. Es waren aber von den Idealen der Französischen Revolution geleitete ehemalige Anhänger der Sklavenhaltergesellschaft, die 1791 die ›Bill of Rights‹ in Kraft treten ließen und sich für die unveräußerlichen Grundrechte auch der afroamerikanischen Minderheit einsetzten, was letzten Endes zur Abschaffung der Sklaverei in den USA führte. Anthroposophie-Kritikern, die bereits im Ideal einer Höherentwicklung im Sinne der Emanzipation von Kollektivismen bzw. in dem Feststellen eines Vorsprungs der europäischen Völker auf bestimmten Gebieten kulturalistische Hybris erblicken [31], wäre also im Gegenzug die Frage zu stellen: Welcher ideengeschichtlichen Tradition und mentalen Situation verdanken sie selbst das historisch-kritische Rüstzeug und den aufklärerischen Furor, mit dem sie gegen die vermeintlich irrationalen Bestrebungen der Anthroposophie zu Felde ziehen, wenn nicht eben jener Hinterlassenschaft, deren normative Teilüberlegenheit sie gleichzeitig zu desavouieren bereit sind?
Rudolf Steiners Ablehnung nationalstaatlicher Homogenität und des Ethnopluralismus
Die Angewohnheit, mit zweierlei Maß zu messen, welche in der Regel mit der Weigerung einhergeht, die Prämissen der Kritik ihrerseits einer Prüfung zu unterziehen, wird vielleicht nirgends so greifbar wie im Fall des Bemühens, der Anthroposophie allein aufgrund ihres Gebrauchs romantisch-idealistischer Begriffe wie »Volksgeist« oder »Volksseele« eine Affinität zu präfaschistischen Gedankenfabriken nachzuweisen. Der Verweis auf inhaltliche »Nähen«, »Schnittmengen« oder »Berührungspunkte« mit dem Ziel, die mit solchen Attributen belegte Ideenrichtung durch entsprechende Verwandtschaftsnachweise zu diskreditieren, gerät jedoch rasch zu einem Selbstläufer. So weist Darwins Postulat der »natürlichen Auslese« beträchtliche Schnittmengen mit sozialdarwinistischen Selektionsstrategien auf. Der Missbrauch der Theorie des »Survival of the Fittest« lässt diese für das Verständnis von Teilprozessen der Evolution jedoch ebenso wenig hinfällig werden wie die Tatsache, dass die eine Domäne der modernen Biologie ausmachende Genetik einst als Geburtshelferin des heute zu Recht kompromittierten Stiefkindes namens Eugenik fungierte. Die Fetischisierung des »perfekten « Körpers infolge des omnipräsenten Fitnesshypes und die Idolatrie der modernen Wettkampf-Arenen als zwei Seiten ein und derselben Medaille weisen wiederum Affinitäten zu dem Körper- und Optimierungskult der Nationalsozialisten auf. Dies allein rechtfertigte jedoch nicht, dem Sport seine Bedeutung für die Gesundheit und Freizeitgestaltung abzusprechen. Wohl kaum einem der Anthroposophie-Gegner käme es angesichts solcher unbegrenzt vermehrbarer Konvergenzen in den Sinn, einen Feldzug gegen die Naturwissenschaften oder den Sport vom Zaun zu brechen – erst recht nicht in Zeiten von »Corona«, in denen ein einseitig virologisch orientiertes Wissenschaftsverständnis, das Superioritätsansprüche gegenüber allen anderen Bereichen menschlicher Erfahrungsrealität auf teils aggressive Weise anmeldet, zum Maßstab aller Dinge erhoben wird.
Der Versuch, Rudolf Steiners Auffassung von Völkern als im Fluss befindlichen geistig-physischen Entitäten, die Menschen ihr äthergeografisches und gruppenseelisches Gepräge verleihen, dessen individuelle Umgestaltung zu freiheitlichem und kosmopolitischem Denken überhaupt erst befähigt, in den Dunstkreis nationalistischer Ideologie zu verlegen, lässt die Vielfalt und Gegensätzlichkeit einer heute fast in Vergessenheit geratenen Domäne außer Acht. Denn völkerpsychologische Betrachtungen konnten je nach Intention entweder nationalistischen Zielsetzungen dienen oder einen Horizont für Verständigung und Humanismus eröffnen. Von der Wirkmächtigkeit des letzteren legen insbesondere die sprach- und völkerkundlichen Studien eines Johann Gottlieb Herder und ihre Rezeption im slawischen Kulturraum Zeugnis ab. [32]
Mit dem 1910 in Kristiania (heute Oslo) gehaltenen »Volksseelenzyklus « und einer Reihe weiterer Vorträge knüpfte Steiner an das kosmopolitische Erbe dieser Tradition an – in der Absicht, am Vorabend des Ersten Weltkrieges eine Verständigungsbasis für die Angehörigen der europäischen Nationen auf geisteswissenschaftlicher Grundlage zu errichten. Wie immer man im historischen Rückblick derartige Versuche im Einzelnen auch gewichten mag: Sie zielten im Kern darauf ab, den nationalistischen Ideenschmieden jener Zeit den geistigen Rohstoff zu entziehen. Die einige Jahre später entwickelte Idee der sozialen Dreigliederung, welche die Entmachtung des ethnisch homogenen Nationalstaates durch die Entflechtung der Bereiche des Geistes-, Wirtschafts- und Rechtslebens vorsah, war nur der sozialreformerisch-politische Ausdruck dessen, was zuvor als volksseelenkundlicher Anlauf begonnen hatte.
In den Augen Steiners stellte die geschichtliche Morphogenese Europas, in dem »sogar einzelnen Volkssplittern« eine spirituelle Bedeutung im Hinblick auf die »Gesamtharmonie der Menschheitsevolution« [33] zufiel, eine ebenso geistvolle wie fragile Komposition dar. Ohne deren Herausbildung wäre die heutige, durch die Begleit- und Folgeumstände der beiden Weltkriege in Form von Genoziden und ethnischen Flurbereinigungen allerdings erheblich reduzierte Fragmentierung und Vielfalt der (mittel-/ ost-)europäischen Kulturen nicht denkbar.
Bemühungen, Steiner als »Ethnopluralisten« je nach politischer Gesinnung entweder zu vereinnahmen oder zu entlarven, verfangen insofern nicht, als hierbei dessen rigide Ablehnung nationalstaatlicher Homogenität sowie die seinem Geschichtsbild eigene Dynamik und Multiperspektivität aus dem Blick geraten. Letztere eröffnete stets einen Raum für dialektische Prozesse und unterlag selbst dort, wo sie mit periodischen Gesetzmäßigkeiten rechnete, keiner deterministischen Engführung. So gestand der späte Steiner trotz oder gerade wegen seines Bekenntnisses zum esoterischen Christentum den monotheistischen Religionen Islam und Diasporajudentum die spirituelle Aufgabe zu, ein im Sinne der Gesamtharmonie erforderliches Korrektiv für das Übergewicht trinitarischer Überlieferungsstränge zu bilden. [34] Er war ein Gegner des von heutigen Rechtsidentitären wiederbelebten Topos, dem zufolge jeder Region eine bestimmte Nation, Religion oder Kultur ein für allemal zugedacht sei. Anders als manche gegenwärtige Darstellung nahelegt, war Rudolf Steiner allerdings auch kein Vorbote multikulturalistischer Heilserwartungen. Denn ihm war klar, dass der Mensch der Moderne, sofern überhaupt bereits in dieser angekommen, in der Regel keinesfalls schon so frei von Prägungen kultureller und nationaler Art ist, wie ihm dies sein Selbstbild gern suggeriert.
Ralf Sonnenberg, geb. 1968, arbeitet als Historiker, Publizist und selbstständiger Lektor in Berlin. Veröffentlichungen u.a.: ›Anthroposophie und Judentum: Perspektiven einer Beziehung‹ (Hrsg.), Frankfurt a.M. 2009. – Kontakt: info @lektoratberlin.net
[1] ›Waldorfschulen gegen Rassismus und Diskriminierung. Stuttgarter Erklärung‹ – https://www.waldorfschule.de/ueber-uns/printmedien/broschueren/erklaerungen/stuttgarter-erklaerung
[2] Vgl. Ralf Sonnenberg: ›Cancel Culture oder die alt neue Lust am Denunzieren‹ – https://anthroblog.anthroweb.info/2020/die-offene-gesellschaft-und-cancel-culture/
[3] Wolfgang Kilthau: ›Anthroposophie und Rassismusvorwurf‹ – https://www.erziehungskunst.de/artikel/sachbuch/anthroposophie-und-rassismusvorwurf/
[4] Vgl. Rudolf Steiner: ›Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhang mit der germanischnordischen Mythologie‹ (GA 121), Dornach 1982, S. 79.
[5] Vgl. ders.: ›Vom Leben des Menschen und der Erde – Über das Wesen des Christentums‹ (GA 349), Dornach 1980, S. 55.
[6] Vgl. ders.: ›Welt, Erde und Mensch‹ (GA 105), Dornach 1983, S. 109.
[7] Vgl. ders.: ›Die Geschichte der Menschheit und die Weltanschauungen der Kulturvölker‹ (GA 353), Dornach 1988, S. 78, S. 186f. und S. 200.
[8] Vgl. Ralf Sonnenberg: ›Vergangenheit, die nicht vergehen will‹ – https://egoistenblog.blogspot.com/2017/11/ralf-sonnenberg-vergangenheit-die-nicht.html
[9] Vgl. GA 353, S. 187.
[10] Vgl. CarisPetra Heidel: ›Naturheilkunde und Juden tum‹, Frankfurt a.M. 2008.
[11] GA 121, S. 67.
[12] A.a.O., S. 78.
[13] Vortrag vom 20. Juni 1912 in Rudolf Steiner: ›Der irdische und der kosmische Mensch‹ (GA 133), Dornach 1964, S. 150f.
[14] GA 349, S. 56.
[15] Vgl. Ralf Sonnenberg: ›Rudolf Steiners Sicht des Judentums zwischen spiritueller Würdigung und Assimilationserwartung‹, in ders. (Hrsg.): ›Anthroposophie und Judentum‹, Frankfurt a. M. 2009, S. 29-63.
[16] Vgl. Robert Rose: ›Evolution, Rasse und die Suche nach einer globalen Ethik. Eine Antwort auf die Kritiker der Anthroposophie und Waldorfpädagogik‹, Berlin 2018.
[17] Vgl. Floris Biskamp: ›Rassismus, Kultur und Rationalität. Drei Rassismustheorien in der kritischen Praxis‹, in: ›Peripherie‹ 146/147 (2017), S. 271-296.
[18] Eric Hurner: ›Kultureller Rassismus. Anthroposophie und die Integration der südafrikanischen Waldorfschulen‹, Tetenhusen 2016.
[19] Vgl. Ansgar Martins: ›Rassismus und Geschichtsmetaphysik. Esoterischer Darwinismus und Freiheitsphilosophie bei Rudolf Steiner‹, Frankfurt a.M. 2012.
[20] Vgl. Helmut Zander: ›Sozialdarwinistische Rassentheorien aus dem okkulten Untergrund des Kaiserreichs‹, in Uwe Puschner u.a. (Hrsg.): ›Handbuch zur »Völkischen Bewegung« 1871-1918‹, München 1996, S. 224-251.
[21] Rudolf Steiner: ›Die spirituellen Hintergründe der äußeren Welt. Der Sturz der Geister der Finsternis‹ (GA 177), Dornach 1999, S. 205.
[22] Immanuel Kant: ›Der Streit der Fakultäten‹, in: AA VII, 52 (= AkademieAusgabe ›Gesammelte Schriften‹, Berlin 1900ff.
[23] Rudolf Steiner: ›Robert Hamerling: »Homunkulus«. Modernes Epos in 10 Gesängen‹, in ders.: ›Gesammelte Aufsätze zur Literatur 1884-1902‹ (GA 32), Dornach 1971, S. 145-155. Rudolf Steiners zwischen Wertschätzung und Assimilationserwartung changierendes Verhältnis zum Judentum zeichnet folgender Beitrag in aller Ausführlichkeit nach: https://www.hagalil.com/antisemitismus/deutschland/steiner.htm
[24] Vgl. Ansgar Martins: ›Hans Büchenbacher: Erinnerungen 1933-1949. Zugleich eine Studie zur Geschichte der Anthroposophie im Nationalsozialismus‹, Frankfurt a.M. 2014.
[25] Vgl. Peter Staudenmaier: ›Between Occultism and Nazism. Anthroposophy and the Politics of Race in the Fascist Era‹. London 2014.
[26] Eine Zusammenfassung der Beiträge und Positionen Ebbestad Hansens liefert ein Interview mit ihm unter https://waldorfblog.wordpress.com/2016/08/26/anthroposophie-und-antisemitismus-in-norwegen/
[27] Peter Selg: ›Rudolf Steiner, die Anthroposophie und der RassismusVorwurf: Gesellschaft und Medizin im totalitären Zeitalter‹, Stuttgart 2020.
[28] Zu diesem Komplex bereitet aktuell das Ita Wegman Institut zusammen mit einem Beirat von Fachwissenschaftlern die Studie ›Anthroposophische Medizin, Heilpädagogik und Pharmazie in der Zeit des Nationalsozialismus (1933-1945)‹ vor.
[29] Vgl. Peter Normann Waage: ›Es lebe die Freiheit! Traute Lafrenz und die Weiße Rose‹, Stuttgart 2012.
[30] Vgl. Philipp Karschuck: ›(Komplementär)Medizin, alternative Religiosität und Judentum. Wissenstransfer, Etablierung und Transformation anthroposophischer Praxisfelder in Israel seit 1920‹, in Caris-Petra Heidel: ›25 Jahre »Medizin und Judentum«. Rückblicke – Resultate, Reflexionen‹, Frankfurt a.M. 2021, S. 140.
[31] André Sebastiani: ›Anthroposophie. Eine kurze Kritik‹, Aschaffenburg 2019, S. 102 und 164.
[32] Vgl. Dieter Borchmeyer: ›Was ist Deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst‹, Berlin 2017, S. 264279. Das Buch des Germanisten Borchmeyer ist ein einzigartiges Kompendium heute fast vergessener romantischidealistischer Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, deren Repräsentanten sich als »Weltbürger« verstanden und den Nationalismus ihrer Zeit entweder scharf kritisierten oder aber parodierten. Die oft sehr eindimensionale Geschichtskenntnis vor allem jüngerer Deutscher macht nach Auffassung Borchmeyers diese besonders anfällig für die Versuche rechter Demagogen, ihnen das völkischnationalistische Bild des Deutschtums als das einzig wahre zu verkaufen. Borchmeyer kritisiert somit aus linksliberaler Sicht eine Politik der Vergangenheitsbewältigung, welche zwar mit vollem Recht das Gedächtnis an den Holocaust und die Greuel des Nationalsozialismus aufrechterhält, zugleich aber die Abwehrkräfte gegenüber nationalistischen Vereinnahmungen aufgrund einer unzureichenden schulischen Wissensvermittlung schwächt.
[33] GA 121, S. 87.
[34] A.a.O., S. 127f. Vgl. auch S. 115, S. 125ff. und S. 172, sowie GA 353, S. 190.