Rezension: Ansgar Martins. Hans Büchenbacher Erinnerungen 1933-1949
Verdienstvoller Beitrag zur Anthroposophie-Forschung
Bald nach Beendigung des Ersten Weltkriegs pöbelten "hakenkreuzgeschmückte" Antisemiten lautstark gegen Rudolf Steiner und die Anthroposophen. So hat es Karl Heyer schon 1921 in der Zeitschrift "Die Drei" beschrieben. Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchten deutsche Autoren wie Johannes Tautz, Christoph Lindenberg und wiederum Karl Heyer rückblickend "Wesen und Wollen des Nationalsozialismus" aus anthroposophisch-esoterischer Sicht zu enträtseln. Viel war dabei von einem tragischen Einbruch des "Bösen" die Rede, von einem Verrat der Deutschen an ihrem Volksgeist und nicht zuletzt vom Versagen der spirituellen Elite, als die sich die Anthroposophen verstanden. Von konkreten Verstrickungen mit dem NS-Regime war dabei noch nicht die Rede. Es dürfte wie ein Schock gewirkt haben, als Arfst Wagner, Waldorflehrer und – während der letzten Legislaturperiode eine Zeitlang auch Bundestagsabgeordneter der Grünen – (der übrigens den Nationalsozialismus einmal als das "Schattenbild der Anthroposophie" definierte), seit 1991 nach langjährigen Recherchen damit begann, brisante Archivdokumente zu publizieren, die diese Verstrickung belegten. Das Thema wurde rasch zum Politikum: linke Anthroposophie-Kritiker griffen Wagners Material dankbar auf, während Steinerfreunde von Nestbeschmutzung sprachen. Auf Wagners Forschungen aufbauend, ließ 1999 Uwe Werner seine grundlegende Studie "Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus" folgen. Seitdem wurden immer weitere Fälle von Anthroposophen bekannt, die sich den Nazis angeschlossen hatten. Die Zeitschrift Info3 veröffentlichte entsprechende Erkenntnisse des US-Historikers Peter Staudenmaier, der 2010 eine materialreiche Dissertation darüber vorlegte, die 2014 in Buchform erschien. In diesem Buch vertritt Staudenmaier die These von der ideologischen Verwandtschaft der Anthroposophie mit dem Nationalsozialismus. Mit der erstmaligen Edition von Hans Büchenbachers Erinnerungen hat nun der Religionswissenschaftler, Waldorf-Blogger und Info3-Autor Ansgar Martins einen weiteren wichtigen Beitrag zum Thema "Anthroposophie und Nationalsozialismus" geliefert.
Büchenbacher, nach NS-Definition ein "Halbjude", war 1931-1935 Vorstandsmitglied der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland und emigrierte später in die Schweiz. Seine kritisch gehaltenen Erinnerungen, die er aus Rücksicht auf noch lebende Zeitgenossen nicht selbst veröffentlichte, spiegeln das oft widersprüchliche Verhalten maßgeblicher Anthroposophen gegenüber dem Hitlerregime. Martins kommentiert diese Erinnerungen kenntnisreich; in mehreren Anhängen, die ebenfalls auf neueren Recherchen beruhen, vertieft er darüber hinaus einzelne Fragen, die mit Büchenbacher zusammenhängen. Die 16-seitige Einleitung zu den Anhängen bietet eine gute Übersicht über die behandelten Themen, wie etwa "Judentum und Antisemitismus in der Anthroposophie" oder "deutsche Anthroposophen während des Hitlerregimes", Waldorfschulen, biodynamische Betriebe, Heilpädagogik usw. Zur Sprache kommen jüdische Rezipienten der Anthroposophie, der vieldeutige Begriff "Deutschtum" und das Schicksal jüdischstämmiger Waldorflehrer. Als einer der ersten trägt Martins verstreute Hinweise auf Widerstand und Verfolgung im anthroposophischen Milieu zusammen, erwähnt auch einige Anthroposophen als KZ-Opfer.
Gerade diese Anhänge bieten einen ausgezeichneten Überblick über den aktuellen Stand der Forschung und Diskussion. So sind auch Untersuchungen zum Thema Judentum und Esoterik berücksichtigt, die im Dezember 2013 in Israel im Rahmen einer internationalen Fachtagung diskutiert wurden.[1]
Nach einer intellektuellen Kurzbiographie des Memoirenschreibers Büchenbacher bringt Martins die bisher wenig beachtete "Links-Rechts-Überschneidung" im frühen anthroposophischen Milieu zur Sprache. Detailliert legt er die "nazistischen Sünden der Dornacher" offen, womit einzelne leitende Funktionäre gemeint sind. Unter dem Stichwort "Inquisitionen der 30er Jahre" bespricht er auch die internen Streitigkeiten über die esoterische Nachfolge Steiners (Ausschluss von Ita Wegman und Valentin Tomberg) und geht auf anthroposophische Publikationen während des Hitlerregimes (Karutz mit seiner Rassenlehre oder Baravalle) ein.
Wie verfehlt es wäre, dem anthroposophischen Führungspersonal in pauschaler Weise rassistische oder nazistische Gesinnungen zu unterstellen, zeigt Martins am Beispiel von Marie Steiner, der manche eine nazifreundliche Haltung unterstellten. Sie sei keine "biologische Rassistin" gewesen, da sie für die "Erfassung der Ichkräfte" durch das deutsche Geistesleben plädiert habe. Wenn sie zeitgenössische "Geschmacksverirrungen" ("Negertänze") beklage, sei sie den Stereotypen eines konservativen Bürgertums gefolgt.[2] Martins Bemühen um eine faire Darstellung zeigt sich u.a. darin, dass er Marie Steiners Unterstützung für Ernst Specht, einen jüdischen Zögling Rudolf Steiners, nicht verschweigt. Sie verhalf ihm zur Emigration nach Neuseeland.
Gleichwohl unterstellt er ihr eine antisemitische Verschwörungstheorie, weil sie einmal bemerkt habe, die Oktoberrevolution sei von einer "Handvoll jüdischen Russentums" gelenkt worden. Doch er bilanziert: Ihr "Schwanken" zwischen Kulturkritik und Rassismus, Völkerstereotypen und Völkerverständigung, sei nicht dem rechten Rand der Anthroposophie zuzuordnen (S. 246), wenn auch Roman Boos 1933/34 versucht habe, sie pronazistisch zu beeinflussen (S. 95). Ihre Haltung sei auch diejenige Karl Heyers gewesen, der einmal formulierte: "Er (Steiner) war Deutscher im besten und höchsten Sinne, in jenem Sinne, in dem Deutsch-Sein und Mensch-Sein eines sind." (S. 247)
Martins nutzte seine Büchenbacher-Edition, um die von diesen angeschnittenen Themen zu vertiefen, wobei sich über das daraus resultierende Übergewicht der "Anhänge" streiten lässt. Dieses dürfte jedoch unvermeidbar gewesen sein, zumal Martins Unmengen neuer Belege und Quellen gefunden hat, die er mit offensichtlichem Entdeckerstolz präsentiert. Wenn ein Nichtanthroposoph wie Ansgar Martins (so die Verlagswerbung) die Geschichte der Anthroposophischen Bewegung und Gesellschaft erforscht, gibt es keine Tabu-Themen. Martins folgt dabei der Linie historisch-kritischer Forscher wie Helmut Zander[3] und Peter Staudenmaier und zieht auch lange gehütete "Interna" ans Licht. Schärfer noch als Uwe Werner arbeitet Martins jene "Sünden" auf, die im Binnenraum der Anthroposophischen Gesellschaft allzu lange verdrängt worden waren. Schon Arfst Wagner hatte historische Selbsterkenntnis angemahnt, die in den letzten 20 Jahren allerdings nur zögerlich in Gang gekommen ist. Allzu oft entzogen sich Steinerfreunde dieser Aufgabe mit esoterischen Argumenten: "Damalige Verfehlungen sind längst karmisch ausgeglichen. Wir müssen uns damit nicht mehr beschäftigen". Selbst wenn dies zuträfe, gilt es für die nachfolgenden Generationen, aus der Geschichte zu lernen. Das aber heißt zunächst: Fakten darzustellen nicht neue Legenden zu konstruieren.
Mit seiner Absicht, die "reale Vielfalt" (S. 95) von Positionen und Verflechtungen herauszuarbeiten, entgegen der in der bisherigen Literatur vorherrschenden Meinung, "die" Anthroposophen hätten gleichsam als geschlossener Block "den" Nazis gegenübergestanden, nähert sich Martins den Intentionen Uwe Werners. Nicht zum ersten Mal. Schon in seinem ersten Buch über "Rassismus und Geschichtsmetaphysik" hatte er sich deswegen die Kritik seines "Mentors" Staudenmaier eingehandelt: "Martins’ book relies a little too heavily on Uwe Werner’s perspective". Die Furcht, dass Martins eines Tages ins Lager der ominösen "Steiner Defenders" abwandert, ist gleichwohl unbegründet. Schon ein Blick in die Statistik, die nach Zander "unbestechlich" ist, belegt, dass Staudenmaier seine Hauptreferenz bleibt. Von den bekannten Steinerkritikern nennt Martins 70 mal Staudenmaier, 44 mal Zander und 13 mal Peter Bierl. Notgedrungen muss er auch etwas von der (aus seiner Sicht natürlich weniger relevanten) anthroposophischen "Binnenliteratur" nennen: 19 mal Ralf Sonnenberg, 17 mal Uwe Werner, 12 mal Lorenzo Ravagli, je 7 mal Christoph Lindenberg und Arfst Wagner. Schon diese Auflistung kann nahelegen, dass Martins die historisch-kritisch arbeitenden Autoren bevorzugt.
Martins lehnt Spekulationen wie diejenigen von Janos Darvas über Anthroposophie und Judentum ab, weil er in ihnen offensichtlich Entlastungsversuche zugunsten Steiners sieht. Aber warum blendet er Franz Rosenzweigs respektvolle Annäherungen an Steiner aus? So behauptet er (S. 381), Franz Rosenzweig habe sich nur einmal (negativ) über Steiner geäußert. Doch Rosenzweig hat ihn mehrfach, und durchaus nicht unfreundlich, erwähnt. Bezüglich Steiners "Aufruf an das deutsche Volk und an die Kulturwelt" meint er am 21.3.1919 gegenüber Margrit Rosenstock-Huessy: "Das hätten wir doch auch unterschreiben können." Und am 7.1.1921 nach der Lektüre von Christian Morgensterns "Stufen": "(...) zum ersten Mal wird mir, an diesem Jünger, der Meister Steiner glaubwürdig, wenn ich ihn auch nicht verstehe."[4]
Historische Momentaufnahmen lassen oft biographische Gesinnungsänderungen unberücksichtigt. So ist bedauerlich, dass Martins neben den pangermanistischen Vorwürfen Schurés gegen Steiner die spätere Versöhnung beider Männer nicht erwähnt, obwohl er die Quelle dazu kennt (S. 245: Camille Schneider) Selbst ein ehemals fanatischer Steinergegner (Hans Leisegang) soll in späteren Jahren seine Haltung gegenüber Steiner revidiert haben.[5]
Gab es einen "linken" Steiner? Angesichts der heute üblichen, einseitigen Etikettierung der anthroposophischen Bewegung als einer rechten oder völkischen wäre Steiners Verhältnis zur sozialistischen Bewegung neu zu beleuchten. Christoph Strawe hat dies auf mehr theoretischer Ebene mit seinem Buch "Anthroposophie und Marxismus" getan. Doch gibt es immer noch offene Fragen dazu. So ist es zu begrüßen, dass Martins auch die Affinitäten zur radikalen Linken und der Arbeiterbewegung (S. 207 ff.), die Anthroposophie-Rezeption von "linker" Seite (über Ernst Bloch und Adorno bis zu Jutta Ditfurth) erwähnt und einige bisher kaum bekannt gewordene "linke" Anthroposophen benennt. Das Thema ist jedoch noch wenig erforscht und demgemäß kann Martins hier wohl auch nur wenige Beispiele nennen.
Manches Material harrt hier noch der Erschließung (dies nur als Anregung), etwa die im Paul Schatz Archiv befindliche Korrespondenz zwischen dem anthroposophischen Techniker und Erfinder Paul Schatz und dem Kommunisten Podubecky, einem Freund Ernst Tollers, der mit diesem 1919 verhaftet wurde und im Gefängnis Steiners "Die Kernpunkte der sozialen Frage" las. (Podubecky fiel 1934 der Säuberungswelle Stalins zum Opfer). Oder ein Brief an Steiner, in dem dieser gebeten wurde, seinen Einfluss geltend zu machen, um die Hinrichtung des Kommunisten Leviné zu verhindern (Steiner Archiv) oder die Biographie des Kommunisten und Anthroposophen Erwin Ratz, des Präsidenten der Gustav Mahler-Gesellschaft, der Hanns Eisler die Emigration in die USA ermöglichte...
Hervorzuheben ist Martins einfühlsame Würdigung von Adolf Arensons Denkfiguren (391 f.), wie sich überhaupt die das Judentum betreffenden Abschnitte wohltuend von mancher einseitigen, selektiven Wahrnehmung und Beschreibung des Problems unterscheiden.
Als problematisch muss es m. E. angesehen werden, wenn er (Staudenmaier folgend) Anthroposophen wie Peter Selg und Thomas Mayer als Verschwörungstheoretiker sieht. Immerhin wendet er sich aber auch gegen (linke) Kritiker, die Steiner schlicht einen Wegbereiter des Holocaust nennen oder den heutigen Anthroposophen finstere Absichten unterstellen. Dennoch hält er selbst an der Wegbereiter-These fest, wenn er vereinfachend resümiert, auch Anthroposophen hätten (letztlich) zur Erosion der Demokratie, zur Emphase der Volksgemeinschaft "und damit zum Sieg Hitlers" beigetragen! (S. 184) Das entspricht Staudenmaiers Ansicht, schon Steiner selbst sei ein Wegbereiter der unheilvollen Entwicklung gewesen.
Ansgar Martins materialgesättigte "Anhänge" sind als Musterbeispiel einer Aufarbeitung verdrängter anthroposophischen Geschichte (etwa ihrer antisemitischen Unterströmung) positiv zu werten. Martins Studie könnte weitere Forschungen in dieser Richtung veranlassen. So wäre etwa der Einfluss des Musikkritikers und Komponisten Walter Abendroth auf die anthroposophische Szene zu untersuchen. Dieser hatte in der Nazizeit Karriere gemacht und seine antisemitischen Ansichten auch nach 1945 in verschiedenen Schriften vertreten, die von anthroposophischer Seite positiv rezensiert wurden. Manche andere Zeugnisse des anthroposophischen Antisemitismus, die in Nachlässen schlummern, harren noch der Veröffentlichung, etwa das Tagebuch des Erfinders Paul Schatz.
Martins Bemühung um Ausgewogenheit zeigt sich u.a. darin, dass er Marie Steiners Unterstützung des Juden Specht erwähnt, die andere Kritiker bisher ausgeblendet hatten. Verdienstvoll auch, dass er den Zwischenfall in München am 15. Mai 1922 einen Anschlag nennt, während Staudenmaier hier nur von einer belanglosen Störung und von einem anthroposophischen Mythos spricht.[6] Ferner betont Martins das immer noch nicht genügend beachtete "left-right crossover" im anthroposophischen Milieu, zwischen Kommunisten und Nationalisten, zwischen Juden und Ariern, zwischen Rationalisten und Mystikern. Dieses crossover spiegelte die gesamtgesellschaftliche Situation in Intellektuellenkreisen des frühen 20. Jahrhunderts.
Es wäre reizvoll, Rudolf Steiner einmal als den typischen Crossover-Menschen darzustellen, der mit den gegensätzlichsten Personen freundschaftlich verkehrte und in den verschiedenartigsten gesellschaftlichen Gruppen ein gern gesehener Gast war. Für Puristen und Rationalisten ein dauerndes Ärgernis! Das galt auch für seine Weltanschauung: den Rationalisten war er zu mystisch, den Esoterikern zu intellektuell. Auch über Steiners gesellschaftspolitische Haltung, die Staudenmaier mit der Formel "Nationalist Cosmopolitism" einzufangen sucht, scheint mir das letzte Wort noch nicht gesprochen.
Ich erlaube mir an dieser Stelle einen kleinen Exkurs zu Theodor Lessing, dem von den Nazis ermordeten Kulturkritiker. Er hat einmal in launiger Weise das religiös-weltanschaulich-sprachliche crossover im bürgerlichen Milieu der Stadt Prag beschrieben und dabei auch Juden und Anthroposophen einbezogen:
"Ich schreibe zunächst auf: die Namen verschiedener Nationalitäten. Zum Beispiel: Tschechisch, Slowenisch, Slowakisch, Deutsch, Ungarisch, Hannakisch, Österreichisch, Jüdisch: sodann die Namen von Religionen: Katholisch, Römisch-Katholisch, Griechisch- oder Russisch-Katholisch, Evangelisch, Altlutherisch, Reformiert. Sodann die Namen von Weltanschauungen, wie zum Beispiel: Theosophie, Anthroposophie, Monismus, Christian Science, Mazdaznan.
Und nun permutiere und kombiniere ich reihenweise. Zum Beispiel aus Reihe eins: Lerne unterscheiden tschechische Slowenen von slowenischen Tschechen, tschechische Deutsche, tschechische Juden, jüdische Tschechen, jüdische Deutsche und so weiter, aber bedenke immer (und nun kommt Reihe zwei), daß diese sein können: römisch-katholische Deutsche oder griechisch-russisch-katholische Tschechen, mosaische Israeliten oder israelitisch-jüdische Deutsche usw., welche jedoch ihrer Weltanschauung nach einzuteilen wären in deutsch-tschechische Theosophen, tschechisch-deutsche Anthroposophen und griechisch russisch katholisch mosaisch deutschreformierte slowenisch anthroposophische Israeliten.
Mit dieser Methode habe ich ausgerechnet, daß es in Prag gibt: 23 Nationalitäten mit 243 Religionen und 2518 Weltanschauungsmöglichkeiten. Gewiß ein 'heißer Boden', und obwohl ich alle liebe und keinen verletzen will, so ecke ich doch immer an. Ich möchte dort kein Staatsbeamter sein."[7]
Was manchem in Martins’ Buch wie eine Anklage erscheinen mag, appelliert in Wirklichkeit an das Gewissen, an noch größere Wachheit ... Auf der Suche nach historischer Wahrheit gilt es zunächst, zu entmythologisieren, schonungslos Fakten zu präsentieren. Das hat Martins in reichem Maße getan. Wie weit er selbst die Anthroposophie als Pseudowissenschaft und esoterische Volksverdummung sieht, und ob er dies auch vor einem anthroposophischen Forum unwidersprochen tun kann, bleibt unklar.
Soll nun die Anthroposophische Gesellschaft ein kollektives Schuldbekenntnis ablegen, wie es 1945 die Evangelische Kirche Deutschlands getan hat? Dieses bedeutete ja nur ein Bedauern des Fehlverhaltens Einzelner im "Dritten Reich". Die evangelische Glaubenslehre (die trotz mancher theologischen Revision noch antijudaistische Elemente enthält) wurde damit ebensowenig in Frage gestellt wie der Luthersche Antisemitismus.
Von Anthroposophen jedoch fordern Kritiker weit mehr: die Lossagung der anthroposophischen Praxisfelder von ihrem - nach Ansicht der Kritiker - abstrusen ideologischen Ballast, den sie als im Kern rassistisch und antidemokratisch erkannt haben wollen. Und nachdem Helmut Zander dem Begründer der Anthroposophie in Sachen Glaubwürdigkeit und Moral kein besonders gutes Zeugnis ausstellte, dürfte Steiner auch weiterhin als "schräger Typ" durch die Medien geistern.
Martins’ Schrift muss auch im Kontext der aktuellen Lage der anthroposophischen Bewegung gesehen werden, die – darin stimmen Beobachter von außen (Zander) und Insider (Peter Selg spricht von Identitätskrise) überein – in einem rapiden Wandel in Richtung Individualisierung und Pluralisierung begriffen ist. Den "Orthodoxen" mögen Autoren wie Martins wie Werkzeuge unheilvoller Mächte erscheinen, die es auf die Ausrottung der Steinerbewegung abgesehen haben. Doch die restlose Beseitigung der Mythen und Legenden um die Person Steiners und sein Werk scheint mir ebenso eine historische Notwendigkeit wie die (selbstkritische) Reflexion der anthroposophischen Geschichte. Martins’ manchmal schonungslose Kritik gegenüber der anthroposophischen Szene mag teils auf persönliche Erfahrungen zurückgehen; teils dürfte sie auch seiner beginnenden akademischen Karriere geschuldet sein, die ihm größere Abweichungen vom anthroposophiekritischen Mainstream nicht erlaubt. Gleichwohl liegt mit dieser Arbeit ein verdienstvoller Beitrag zur Anthroposophie-Forschung vor, der mit einer Fülle von Hinweisen zu weiteren Recherchen anregen kann.
Zuerst erschienen auf: Themen der Zeit
[1] Die Referate dieser Tagung sind unter dem Stichwort "Theosophical Appropriations" auf youtube abrufbar.
[2] Als Ein Beispiel für dieses Bürgertum wäre auch der "konservative Revolutionär" Arnold Schönberg zu nennen, der 1933 als Berliner Hochschulprofessor entlassen wurde und in die USA emigrierte. Er sah sich selbst in der Tradition der "deutschen Musik" stehend und war von deren "Vorherrschaft" überzeugt. Den Jazz lehnte er als undeutsch und dekadent ab.
[3] Helmut Zander: Rudolf Steiner. Die Biographie. München 2012, S. 14.
[4] Rosenzweig: Die Gritlibiriefe, Tübingen 2002.
[5] Siehe Schöffler (Hg.): Das Wirken Rudolf Steiners 1917-1925. Dornach. 1987, S. 109.
[6] Peter Staudenmaier: "Anschlag auf Rudolf Steiner?" Egoisten (Blog) Michael Eggert 2014. Staudenmaiers Artikel stützt sich auf eine sehr schmale, unzureichende Quellenbasis, wobei er nur das zitiert, was seiner These nicht widerspricht.
[7] Theodor Lessing: Prag und die Prager, zit. nach Rainer Marwedel: Theodor Lessing, 1989, S.212 f.