Rezension: Die Christengemeinschaft im Nationalsozialismus
In dunkler Zeit
Im 20. Jahr ihres Bestehens (1941) wurde die Christengemeinschaft von den Nationalsozialisten verboten. Den führenden Pfarrern blieben Gefängnis und sogar KZ-Aufenthalte nicht erspart. Frank Hörtreiters Forschungsbericht geht der Frage nach, inwieweit die Christengemeinschaft in Gegnerschaft oder sogar aktivem Widerstand gegen das NS-Regime stand. Es ging um ihr Überleben, aber hat die Christengemeinschaft als Bewegung für religiöse Erneuerung alles getan, oder besser: war sie in der Lage, wirklich alles zu tun, um Verfolgten wie beispielsweise den Juden zu helfen?
Grundlage für dieses Buch waren als wichtigste Archivalien die Nachlässe der damaligen Priester und die vertraulichen Priesterrundbriefe von 1921 bis 1941, daneben die Zeitschrift «Die Christengemeinschaft» und zahlreiche unveröffentlichte Quellen (Tagebücher, Briefe usw.), vor allem aus dem Archiv der Christengemeinschaft Berlin. Der Autor kannte die meisten der genannten Priesterkollegen und konnte von seiner Priesterweihe an auch die früheren Rundbriefe einsehen. Weil er den Eindruck hatte, dass vor allem Gemeindemitglieder die Gründergestalten wie «vergoldet» ansahen, lag ihm an einer realistischen Darstellung. Immerhin während acht der zwölf Jahre des Hitlerregimes war die Christengemeinschaft nicht verboten. Wie konnte sie so lange überleben?
2021 veröffentlichte Hörtreiter sein Buch, rechtzeitig zum 100. Geburtstag der Christengemeinschaft im Jahr 2022. Es ist in sieben Kapitel gegliedert, wobei das letzte, umfangreichste, ausschließlich Dokumente enthält. Hörtreiter versuchte bei seinen Betrachtungen die Zeitzwänge, aber auch den Eigencharakter der Christengemeinschaft herauszustellen, und ist für weitere Hinweise aus den Jahren 1933 bis 1945 dankbar.
Das Buch beginnt mit Friedrich Rittelmeyer (1872–1938), den seine Orientierung am deutschen Idealismus davor bewahrte, Gefallen am Nationalsozialismus oder an Deutschtümelei zu finden. Sein Interesse galt dem deutschen Wesen und seinen geistigen Aufgaben in der Welt, wie er es in seinem Buch «Deutschtum» (1934) darlegte. Immer wieder bemühte er sich, falsche Anschuldigungen gegen die Christengemeinschaft aus der Welt zu räumen. Und er blieb standhaft: Die Sakramente durften niemandem verweigert werden, selbstverständlich auch Juden nicht. Seine feste Haltung war stark prägend für die Christengemeinschaft.
Im Jahr 1934 hatte er an die politische Polizei geschrieben: «Die Christengemeinschaft ist eine Vereinigung von Menschen, die ausschließlich durch die Pflege des Christentums in dieser Gemeinschaft miteinander verbunden sind.» (S. 57)
Im Jahr darauf erläuterte Rittelmeyer in einem Schreiben an den Priesterkreis das Verhalten bei eventuellen Verhören durch die Gestapo. Er begann mit der Ausarbeitung einer Denkschrift, die zur inneren Klärung der Priester und gegebenenfalls sogar zur Vorlage bei der Gestapo dienen sollte. Darin bat er die Priester noch einmal, sich so stark wie möglich im allerzentralsten christlich-religiösen Wirken zu halten, das heißt: Kultus, kultische Predigt, seelsorgerliche Besuche, biblische Vorträge und Besprechungen. Die Stellung zur Anthroposophie berührend, schrieb er: Rudolf Steiner lebt in den Begründern der Christengemeinschaft «als klarsichtiger Geisteshelfer in der deutschen Not – die eine Weltnot ist.» (S. 74)
Ein weiterer Höhepunkt ist Alfred Heidenreichs (1898–1969) Brief aus London an Rittelmeyer von 1936. Hier berichtet er von dem Kampf, das Verbot der Anthroposophischen Gesellschaft (1935) bei dem Leiter des Geheimen Staatspolizei- Amts Heydrich rückgängig zu machen, oder wenigstens eine Duldung zu erreichen. In dieser Sache war neben dem Priester Eduard Lenz auch die Dresdner Waldorflehrerin Elisabeth Klein aktiv.
Besonders eindrucksvoll ist auch eine Äußerung von Februar 1939: «Heidenreich wäscht den deutschen Kollegen den Kopf.» (S. 100) Hier warnt er mit deutlichsten Worten davor, den geringsten Anschein zu erwecken, die Christengemeinschaft sei eine Tarnorganisation der seit 1935 verbotenen Anthroposophischen Gesellschaft.
Im Kapitel 3 «Nationalsozialisten, Helfer und Verfolgte» finden sich zwei ergreifende Berichte von Mitgliedern der Christengemeinschaft: Martha Haarburger und Henriette Schläger im Transitlager Theresienstadt.
Das 6. Kapitel behandelt die Zeit «vom Verbot 1941 bis zum Kriegsende». Viele Pfarrer wurden eingezogen, die Pfarrerinnen mussten andere Tätigkeiten suchen. Ergreifend ist die Schilderung des Pfarrers August Pauli (1869–1959), dessen Sohn ein begeisterter Nationalsozialist und Bergsteiger war. In den Bergen fand er seinen Tod … Es ist das Kapitel, in dem auch die «Sonderfälle» abgehandelt werden. Es geht um den Pfarrer Jan Eekhof, der Nationalsozialist wurde, und zwei Nationalsozialisten, die nach 1945 Priester wurden: Friedrich Benesch und Werner Georg Haverbeck.
Das Nachwort fasst noch einmal zusammen, was die Christengemeinschaft eigentlich ausmacht. Unter der äußersten Bedrohung erlebte sie ihren Kern, ihr Wesen «als Verkünderin des Christus und als Heimstätte für die Gemeinden, die sich am Altar finden» (S. 371). Im Anhang beeindruckt ein sorgfältig erstellter, überaus umfangreicher Apparat, der eine Grundlage für weitere Studien bilden kann.
Dies ist für jeden, der sich mit der Christengemeinschaft innerlich verbunden fühlt, ein aufregendes, zutiefst ansprechendes Buch. Priester und Gemeindemitglieder mussten durch die geistige Nacht gehen, mit einem kleinen Licht in der Hand … Es war eine Bewährungsprobe für viele. Das Buch vermittelt, wie die meisten die Probe bestanden, manche nicht. Aber auch die, die sie bestanden hatten, fühlten einen Rest an Schuld, der ihnen unverzeihlich erschien.
In dieser Gesamtheit gab es bisher keine solche interne, kritische Aufarbeitung zur Stellung der Christengemeinschaft in der NS-Zeit. Ellen Huidekoper (1956–2011) verfasste eine ausführliche Darstellung bis zum Verbot von 1941 als Festschrift für Hans-Werner Schroeder. Diese nahm Hörtreiter, der das Buch mit ihr zusammen schreiben wollte, darin mit auf (S. 140–163). Huidekoper war Historikerin, Priesterin und gehörte ab 1987 zur Leitung der Christengemeinschaft.
Einige Berichte und Dokumentationen sind hier erstmals veröffentlicht, darunter viele schwer greifbare. Es ist Hörtreiters Verdienst, diese verborgenen, oft auch ausländischen Quellen ausfindig gemacht zu haben. Zu letzteren ist auch heute, allein durch die Sprachbarriere, der Zugriff nicht einfach. Hörtreiter ging es nicht um Glorifizierung, sondern um eine möglichst realistische Übersicht über die Geschehnisse von damals.
Man ersieht aus dieser Darstellung, wie die junge Bewegung der Christengemeinschaft seit ihrer Gründung nur wenige Jahre Ruhe für ihre allerersten Anfänge hatte, dann aber durch die Nazizeit immer mehr unter massiven geistigen und materiellen Druck geriet. Das betraf zunächst Deutschland selbst, dann aber auch die im Verlauf der Kriegshandlungen von Deutschland besetzten Länder. Auf die eingangs gestellte Frage nach dem Widerstand zitiert Hörtreiter Kurt von Wistinghausen: «[…] dass die Christengemeinschaft zwar verfolgt wurde, aber sich keines Widerstandes gegen den NS-Staat rühmen darf». (S. 51)
Mit zahlreichen, selten gesehenen Fotos und bedeutsamen Dokumenten verbindet sich der Text in einem angenehmen Layout. Es entstand ein gewichtiger und – auch äußerlich im Tiefviolett seines Covers – schön gestalteter Band.
Frank Hörtreiter wurde 1944 in Dresden geboren. Später studierte er in Tübingen Philosophie und wurde ab 1970 Priester der Christengemeinschaft in den Gemeinden Hamburg, Hannover und Stuttgart. Er lebt als Öffentlichkeitsbeauftragter der Christengemeinschaft in Hannover. In seinem Buch schreibt er bedauernd, er sei zwar auch Theologe und Altphilologe, jedoch kein Historiker. Er schrieb dieses Werk im Gedenken an Ellen Huidekoper, deren früher Tod 2011 ihre Zusammenarbeit unterbrach. So lag das Gewicht an Mühe und Verantwortung im Wesentlichen auf ihm.
Zuerst erschienen in: Anthroposophie, Johanni 2023
>> www.anthroposophische-gesellschaft.de/zeitschrift-anthroposophie