Rezension: Auf all deinen Wegen, erkenne Ihn! Eine Begegnung von jüdischer Esoterik und Anthroposophie.
Von göttlicher Gegenwart
Die verdienstvolle Zielsetzung des info3-Verlags, einen Beitrag zum Dialog zwischen Anthroposophie und den Religionen zu leisten, ist durch eine bemerkenswerte Neuveröffentlichung des Philosophen und Waldorfpädagogen János Darvas bereichert worden. «Auf allen deinen Wegen, erkenne ihn! Eine Begegnung von jüdischer Esoterik und Anthroposophie» lautet der Titel des eben erschienen Werkes und lenkt damit schon den Blick auf das Offene, Vielseitige und Prozesshafte aller Bestrebungen sowohl der jüdischen Esoterik als auch des vorgelegten Werks selbst hin.
Der Autor selbst ist im Judentum aufgewachsen, bestens vertraut mit den Weisheitstraditionen auch anderer Religionen und lange verbunden mit der Anthroposophie. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Leser auf eine äußerst anregende Reise in das Reich der Kabbala mitzunehmen, und hat dabei seine Ausführungen trialogisch angelegt, indem Erfahrungen und Erkenntnisse aus «spirituellem Judentum, philosophischen Fragen und anthroposophischen Ausblicken » miteinander verbunden werden, was dem Buch eine großartige Spannung und Tiefe verleiht.
Das Verständnis von Spiritualität als moderne Lebensform der Geistsuche, der Transformation und der Wahrheitsliebe bildet für Darvas den Ausgangspunkt seiner Nachforschungen und Überlegungen. Als Grundlagen dienen ihm dabei sowohl textliche Primärquellen als auch Interpretationen und Fortentwicklungen der Kabbala durch jüdische Gelehrte (Gershom Scholem u. a.). Er hat aus diesen Geistestraditionen schließlich acht zentrale Motive herausgeschält. Dazu hat er feine, gehaltvolle und lebensnahe Abhandlungen mit gleichsam meditativem Charakter verfasst, die uns den Wert und die Bedeutung dieser Motive vergegenwärtigen, jedoch nicht ohne die von der Kabbala-Forschung auferlegte Distanz, die eine solche spirituelle Erfahrung erst kommunizierbar und für andere nachvollziehbar macht. Persönlich Durchlebtes wird so zu objektiver Formulierung gebracht. Auf schlüssige Weise führt János Darvas so den Leser in die ausgewählten Motive und damit in Grundhaltungen der kabbalistischen Weisheitslehre ein, die Wege und Wegmarken zugleich bilden.
Zu Beginn wird das Motiv des Wegs betrachtet (dae’hu), der ein Weg der Erkenntnis ist, auf dem der Geistsuchende den «Kern der traditionellen Lehren» in eigenständiger Weise Buchbesprechungen János Darvas Auf allen deinen Wegen, erkenne ihn! Eine Begegnung von jüdischer Esoterik und Anthroposophie. info3-Verlag, Frankfurt/M. 2023 158 Seiten, Klappenbroschur mit eingelegter Karte des Sefirot-Baums. 18 Euro und vor allem neu zu erfassen vermag. Ein Weg, zu dem gerade die Anthroposophie eine zeitgemäße «methodische Ausrichtung und Struktur» zu geben vermag. Über das Motiv und den Wert der gegenseitigen Beziehung von Gott und Mensch (schiwiti) und das in der jüdischen Spiritualität angelegte tiefe Vertrauen (eumenia) in diese Beziehung geht die Betrachtung folgerichtig über in das Motiv des Handelns, der aktiven Spiritualität (Na’asseh we-nischma). Für diese ist Wahrheit (emet) nicht ein Abstraktum, sondern Tat-Sache, durch die der Mensch zur Vollendung der Welt beitragen soll.
Mit dem Motiv des Ewigen Bundes (brit olam) wird ein fundamentales Element des jüdischen Welt- und Selbstverständnisses bedacht und tiefer erschlossen: In seiner letzten Konsequenz liegt im Gedanken des Ewigen Bundes nicht Unterordnung, sondern der Keim aller Freiheit beschlossen. Ebenso aufschlussreich sind die Erläuterungen zur Lehre von den Sefirot, die als eine in viele Richtungen dynamische Gesamtgestalt zur Darstellung kommt, und die in der Meditation des Gottesnamens gipfelt. Keineswegs fehlen dürfen dann Betrachtungen zum Verständnis der Jichudim, der Wege zur mystischen Vereinigung mit dem Heiligen; ein Kernthema jeder Mystik, das hier aus überraschenden Bezügen herausgefiltert wird.
Die Bedeutung der Gefühls- und Willenswelt des Menschen und ihrer Schulung (mussar) in den jüdischen Weisheitslehren mit der Zielsetzung des seelischen Gleichmuts (hischtawut) wird folglich wiederum als Aufgabe der Vereinigung polarer Kräfte verstanden. Schließlich führen alle bisherigen Ausführungen konsequent zum Motiv der Wahrnehmung des ehje, des Ich-Erlebens, der Ich-Kraft, des Ich- Seins, das Quelle und Kulminationspunkt allen mystischen Lebens zugleich ist und in dem die Vereinigung mit dem Göttlichen realisiert wird.
Der große Kenntnisreichtum jüdischer Weisheitslehren und deren sprachlich sorgfältige Vermittlung bilden sicherlich die Essenz des Buchs. Aber es geht weit darüber hinaus, da es János Darvas gelingt, darin ein unaufdringlich angelegtes Gespräch zu führen, das auf erhellende Weise Grundgedanken der Anthroposophie Rudolf Steiners – seien sie aus «Die Philosophie der Freiheit», der Erkenntnislehre zu den höheren Bewusstseinsstufen, der Beschreibung meditativer Schulungswege oder der psychologischen Menschenkunde – dazu beitragen lassen, die tiefen Wurzeln jüdischer Esoterik für ein Gegenwartsbewusstsein zu erschließen. Ebenso beeindruckend ist aber auch die damit einhergehende hohe Wertschätzung für das religiöse Leben im allgemeinen, nicht nur des jüdischen, die Darvas mit differenziertem Gespür für spirituelle Kräfte zum Ausdruck bringt. So wird göttliche Gegenwart auf allen zu gehenden Wegen vielfältig erkenntlich und erfahrbar.
Über die eigentliche Thematik des Buchs hinaus ist es ein Grundanliegen des Autors, Aufklärung über das Judentum selbst zu leisten, über seine spirituelle Tiefe wie seine humanistische Weite, die auch in anthroposophischen Kreisen seiner (und der anderer) Meinung nach noch nicht genügend erkannt werde. Grund genug, dieses lehrreiche, anregende und auch berührende Buch zur Hand zu nehmen und es zu studieren.
Zuerst erschiene in der Zeitschrift Anthroposophie