Rezension: Rudolf Steiner, die Anthroposophie und der Rassismus-Vorwurf
Mit dem Rassismus-Vorwurf, den verschiedene Kritiker gegen Rudolf Steiner und die Anthroposophie erheben, hat sich Peter Selg schon mehrfach beschäftigt. Auch die Breitseite, die Helmut Zander in seiner dickleibigen, aber von Selg keineswegs als gewichtig angesehenen Studie ›Anthroposophie in Deutschland‹ (Göttingen 2007)[1] abfeuerte, hat er seinerzeit in ›Der Europäer‹ bis ins Einzelne pariert, soweit es sich um das medizinische Thema handelt.[2] Dass diese Besprechung nun in korrigierter Form im Anhang des vorliegendes Bandes wieder abgedruckt worden ist, nützt sicherlich, zumal Selg bei irrigen Behauptungen nachweist, dass sie – auch von Zander – ungerührt weiter aufgestellt werden. Insofern ist Selgs Klage darüber, dass man gegen bestimmte Unwahrheiten hilflos ist, wenn sie durch die ständige Wiederholung – besonders von Journalisten – der Öffentlichkeit eingetrichtert werden, berechtigt.
Das Buch vermischt mehrere Argumentationslinien, weshalb es nicht einfach zu lesen ist:
- Rudolf Steiners Blick auf das Judentum wird in seiner Fortentwicklung erhellt. Steiner konnte sich offenbar noch nicht vorstellen, welche Verbrechen an jüdischen Mitmenschen nach seinem Tode geschehen würden, sonst hätte er den Antisemitismus (obwohl er sich klar dagegen positioniert hat) nicht so harmlos genommen und den Zionismus für unnötig erklärt. Dieser ganze Bereich ist von Selg so ausführlich und präzise dargestellt, dass der weniger Kundige daraus reichen Gewinn ziehen wird. Der Vorwurf, Steiner sei Rassist gewesen, erledigt sich von selbst. Dass er in vielen Urteilen und Begriffsverwendungen zeitgebunden war, wird auch von Selg bestätigt.
- Die Unvereinbarkeit mit dem Nationalsozialismus bekräftigt Selg nicht nur aus den inneren Motiven der anthroposophischen Menschenkunde heraus, sondern auch aus den sich klar und unversöhnlich abgrenzenden Begründungen führender Nationalsozialisten. Das ist in Uwe Werners ›Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus‹ (München 1999) schon umfangreich dargestellt worden.
- Ebenso mit Bezug auf Werner wird die unter- schiedliche – manchmal anbiedernde, manch- mal urteilsschwache – Haltung mancher Anthroposophen gegenüber der »nationalen Erhebung« angesprochen. Doch Selg wendet sich Geistige Rendite gegen die Vorstellung, dass diese Haltung für die Anthroposophen repräsentativ gewesen sei. Vor allem bei Ita Wegman und ihrem Umkreis – dessen politische Klarheit von Zander und Peter Staudenmaier verharmlost wird – finden sich Selgs Gegenargumente. Es ist ja nicht berechtigt, jene Anthroposophen, die 1935 aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurden, nicht mehr wichtig zu nehmen. Der Ausschluss war ein Unrecht, und den darf man nicht verewigen, indem man diese menschlich und fachlich wichtigen Menschen auch heute noch ignoriert. Dass in der anthroposophischen Heilpädagogik mutig und erfolgreich Menschen bewahrt wurden, die sonst der Euthanasie verfallen wären, ist besonders diesen Ausgeschlossenen zu verdanken; sie waren weiterhin wirksam.
Selgs Empörung über die Kritiker ist weithin nachvollziehbar. Doch stellt sich die Frage: Ist diese Partie mit den anderen drei Sachbereichen gut verbunden? Sie wird jenen sicher eine Hilfe sein, die an der Universität Witten/Herdecke Medizin studieren, und für sie ist der »Aufsatz« (wie Selg sein Buch bescheiden nennt) in erster Linie gemeint. Und doch wartet der Rezensent gern auf die medizingeschichtliche Studie von Peter Selg und Matthias Mochner: ›Anthroposophische Medizin, Heilpädagogik und Pharmazie in der Zeit des Nationalsozialismus (1933- 1945)‹, die noch in Vorbereitung ist.
Zuerst erschienen in: Zeitschrift Die Drei, Januar 2022
[1] vgl. meine Rezension in ›Die Christengemeinschaft‹ 5/2008.
[2] vgl. Peter Selg: ›Helmut Zander und seine Geschichte der anthroposophischen Medizin‹, in ›Der Europäer‹ November 2007