Anthroposophie in der Kritik
Ein Merkmal, das allenthalben die Corona-Zeit prägt, sind die Klüfte, Gräben und Spaltungen, die sich durch die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen ziehen. Das Vokabular ist schon in der Titulierung hart und unbeugsam. Es ist von (Corona-)Leugnern, (Maßnahmen-)Gegnern und (Impf-)Verweigerern die Rede. Der an sich friedlich-unbelastete Begriff vom »Spaziergänger« und auch die bis dato eher positiv konnotierte Bezeichnung »Querdenken« sind zu Euphemismen einer Protestbewegung mutiert. Der Artikel erschien in der Zeitschrift Erziehungskunst, Ausgabe April 2022.
Differenzierungen sind unerwünscht, die Schablonen des Pro und Contra, ein reduktionistisch verfälschendes Schwarz-Weiß-Denken bestimmen die öffentliche Debatte. Je weiter die Belastungen der Pandemie voranschreiten, desto härter und unversöhnlicher sind die Diskurse geworden. Mittendrin, gewissenmaßen als identifizierte Inspirationsquelle und spiritus rector der Kritik an den Corona-Maßnahmen, wird die Anthroposophie apostrophiert und mit ihr als Hort des Widerstandsgeistes die Lebensfelder der biologisch-dynamischen Landwirtschaft, der anthroposophischen Medizin und der Waldorfpädagogik. Die in Basel erschienene Nachtwey-Studie, die nach eigener Aussage keinen repräsentativen Anspruch erhebt, wird von den öffentlichen Medien unisono als Beleg dafür zitiert, dass der Widerstand gegen die Corona-Maßnahmen insbesondere im deutschsprachigen Raum wegen der Anthroposophie so groß sei. Dabei wird außer Acht gelassen, wie zahlenmäßig gering der Einfluss der Anthroposoph:innen und anthroposophie-affinen Menschen in Deutschland ist. Noch nicht einmal ein Prozent aller Schüler:innen besuchen in Deutschland eine Waldorfschule. – Als weitere kulturell-ideologische Quelle der Maßnahmenkritik wird auch die Romantik herangezogen. Solche unzulänglichen und pauschalen Zuschreibungen erinnern an eine mittelalterliche Hexenjagd. Wo Not und Unzufriedenheit herrschen, muss eine Schuldzuschreibung erfolgen. Und weil der Mainstream unangreifbar ist, müssen Randgruppen dafür herhalten. Auch bleibt unbeachtet, dass in vielen anderen Ländern – wie Frankreich, den USA und besonders auch in Kanada – zum Teil heftige Coronamaßnahmenproteste aufkommen. Kann das auch dem Einfluss der Romantik und der Anthroposophie zugeschrieben werden? Wohl kaum! Deutlich wahrnehmbar sind rechte und nationalistische Töne, die sich in die Proteste mischen. Aber auch dafür muss die Anthroposophie herhalten, deren Vertreter allerdings traditionell eher links-liberal angesiedelt sind. Da passen der Rudolf Steiner unterstellte Rassismus und Antisemitismus gut ins Bild. Man kann wohl mit etwas Zynismus behaupten: Noch nie war die Anthroposophie so prominent wie heute...