Rudolf Steiner und sein jüdisches Umfeld
Historische Perspektive auf Steiners Engagement gegen Antisemitismus und seine Beziehung zu jüdischen Persönlichkeiten. Der Beitrag erschien zuerst März 2023 in der Zeitschrift Erziehungskunst.
Rudolf Steiner bewegte sich seinerzeit in einem gemeinhin jüdischen und sehr kosmopolitischen Umfeld. Über seine Verbindungen zu jüdischen Zeitgenoss:innen sowie sich dazu scheinbar widersprechende antisemitische Aussagen Steiners erzählt Prof. Tomáš Zdražil, der seit 2007 im Bereich anthropologische und anthroposophische Grundlagen der Waldorfpädagogik an der Freien Hochschule Stuttgart tätig ist. Zdražil ist in Tschechien geboren und hat in Prag Geschichte studiert.
Erziehungskunst | Herr Zdražil, ab 1884 arbeitete Rudolf Steiner als Hauslehrer bei der jüdischen Familie Specht, deren Sohn Otto als behindert galt. Dank Steiners Arbeit mit dem Jungen konnte dieser nach zwei Jahren eine Schule besuchen und wurde schließlich Arzt. Würden Sie sagen, dass diese Tätigkeit die Wurzel der Waldorfpädagogik war?
Tomáš Zdražil | Das würde ich so bejahen. Steiner ist in pädagogischen Ausführungen immer wieder zu dieser Zeit zurückgekommen. Für Steiner bedeutete diese Erfahrung ein lebensnahes und intensives Studium der Psychologie und Physiologie, eine Schulung seiner Beobachtungsfähigkeit und ein ständiges Abwägen der Folgen seines erzieherischen Tuns – so konkret, wie es durch theoretisch-wissenschaftliche Studien nie möglich gewesen wäre. Leider hat er nicht viel über konkrete pädagogische Methoden berichtet. Auch die anthroposophische Heilpädagogik hat hier eine Wurzel. Die Verbindung zu dieser Familie war menschlich eng und für beide Seiten sehr wichtig. Sie bestand bis in seine letzten Lebensjahre. Dadurch hat Steiner auch hautnah die gesellschaftlich schwierige Situation der jüdischen Mitbürger:innen im damaligen Österreich miterlebt.
EK | Im September 1900 schrieb Rudolf Steiner: «Für mich hat es nie eine Judenfrage gegeben, mein Entwicklungsgang war auch ein solcher, dass damals, als ein Teil der nationalen Studentenschaft Österreichs antisemitisch wurde, mir das als eine Verhöhnung aller Bildungserrungenschaften der neuen Zeit erschien. Ich habe den Menschen nie nach etwas anderem beurteilen können als nach den individuellen persönlichen Charaktereigenschaften.» Wie sind dann antisemitische Äußerungen Steiners zu begründen?
TZ | Das eine, worauf sich der Antisemitismus-Vorwurf bezieht, ist ein Artikel, den er als 27-jähriger geschrieben hat. Da kritisiert er Emanzipationsbemühungen der Zionist:innen und das zweite ist ein Artikel, den er mit 35 für das Magazin für Literatur geschrieben hat, das er redigiert hat. Das hängt mit seiner Überzeugung zusammen, dass es richtig ist, das Volksmäßige vom Politischen zu trennen und auf individuelle, geistige, seelische Fähigkeiten des Menschen zu bauen, nicht auf biologische oder sprachliche. Ende des 19. Jahrhunderts entstand der Zionismus als Bewegung mit dem Ziel, einen selbstständigen Nationalstaat für das jüdische Volk zu gründen. Das hat er kritisiert. Diese nationalstaatliche Abgrenzung ist in bestimmten Regionen vielleicht möglich, aber in anderen sehr schwierig, zum Beispiel in großen Teilen von Europa. Extrem schwierig ist das auch im Nahen Osten. Wenn man Steiners Lebenspraxis betrachtet, sieht man eine große Offenheit gegenüber den jüdischen Menschen, dass er an keiner Stelle etwas lebt, was man antisemitisch nennen könnte. Er hat sich aber natürlich damals in diesen beiden Artikeln auf eine Art ausgedrückt, die man heute als sehr ungeschickt und nicht empathisch bezeichnen muss.
EK | Rudolf Steiner publizierte vielfach in den Mitteilungen des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus. Was war der Hintergrund dazu?
TZ | Das hängt damit zusammen, dass er in einer Phase seines Lebens eine ganz wichtige Freundschaft mit dem jüdischen Schriftsteller und Dichter Ludwig Jacobowski hatte. Sie haben zusammen unter anderem in diesem Verein gewirkt. Steiner hat dann sogar nach dem frühzeitigen Tod Jacobowskis sein literarisches Werk herausgegeben.
EK | Wer gehörte noch zu den jüdischen Persönlichkeiten, zu denen Steiner Kontakt pflegte?
TZ | Aus meiner Kenntnis heraus, waren das vor allem Menschen aus Prag. Steiner war ab 1907 regelmäßig in Prag, damals war er Generalsekretär der Theosophischen Gesellschaft in Deutschland und Prag war eine Stadt, die sehr aufgeschlossen war für Theosophie und Spiritualität. Es gab in dieser Zeit auch ein sehr reichhaltiges kulturelles deutschsprachiges Leben in Prag. Man fand damals in Prag Persönlichkeiten wie Franz Werfel, Max Brod, Franz Kafka und andere. So gab es auch einen philosophisch und künstlerisch interessierten Kreis um die Intellektuelle Berta Fanta, die einen Kultursalon gründete. Auch Albert Einstein besuchte ihn. Und Berta Fanta wurde eben auch Vorsitzende der Anthroposophischen Gesellschaft in Prag. Um sie herum gab es viele jüdische Persönlichkeiten, die sich für die Anthroposophie Steiners interessiert haben. Diese jüdischen Menschen in Prag waren deshalb so besonders, weil sie sich aus den volksmäßigen Traditionen herausgelöst haben, nach Antworten auf Sinnfragen gesucht haben und sehr gebildet waren. Diese Menschen haben eine Art nationale Entwurzelung erfahren, lebten zwischen Völkern. In Prag war das zwischen dem tschechischen und dem deutschen Element. Es waren geistig sehr aufgeschlossene, liberal gesinnte Menschen. In dieser Zeit waren Steiners Vorträge in Prag ein echtes kulturelles Ereignis. Die führenden Anthroposoph:innen standen dort also mitten im kulturellen Leben. Die Veranstaltungen Steiners wurden sehr gut besucht und in Zeitungen besprochen. Nach Prag kam zum Beispiel auch Ernst Müller, ein sehr bekannter Kabbala-Forscher aus Wien, der mit Steiner im Gespräch war. Der Prager Philosoph Hugo Bergmann ist später nach Israel ausgewandert, wo er die erste Universität in Jerusalem mitbegründet und Rudolf Steiner in Israel bekannt gemacht hat.
EK | Ein Teil des Kollegiums der ersten Waldorfschule in Stuttgart war jüdisch. Was wissen wir über die angespannte Zeit der Machtübernahme der NSDAP und die Auswirkungen auf die Waldorfschule?
TZ | Erstmal war da stets eine ablehnende Haltung des Lehrerkollegiums der Stuttgarter Waldorfschule dem Nationalsozialismus gegenüber, auch wenn die nicht-arischen Kollegen die Schule verlassen mussten und auch andere Kompromisse mit dem Staat eingegangen wurden. Da gab es aber Karl Stockmeyer, sozusagen den Waldorflehrer der ersten Stunde.
Als Stockmeyer nach der erzwungenen Schließung der ersten Waldorfschule in Stuttgart 1938 in den badischen Schuldienst zurückkehren wollte, schreibt er in seinen Lebenslauf, mit dem er sich bewirbt, ein mutiges Bekenntnis zu Rudolf Steiner: «Die Arbeit in der Waldorfschule, bis 1925 unter der Leitung von Rudolf Steiner, dem hervorragenden deutschen Philosophen, Geistesforscher und bahnbrechenden Pädagogen, hat mir unvergleichlich starke und fördernde Anregungen und anderweitig nicht mögliche Erfahrungen gebracht, die für das öffentliche Erziehungswesen auszuwerten ich mich für mein ferneres Leben verpflichtet fühle.» Man muss sich vorstellen, dass dies nach der Schließung von fast allen Waldorfschulen und auch nach dem Verbot der anthroposophischen Gesellschaft geschehen ist. Er riskierte einiges damit. In einem politischen von der NSDAP ausgestellten Gutachten über Karl Stockmeyer vom Februar 1939 steht: «Stockmeyer war ein fanatischer Anthroposoph. Er war maßgebend für die anthroposophische Leitung an der Waldorfschule, war Mitglied des Waldorfschulvorstand-Rates und Leiter der 100 Waldorfschul-Ortsgruppen. Gegen den Nationalsozialismus nahm er immer scharf Stellung, auch nach der Machtübernahme. Er trägt die Hauptschuld an der ablehnenden Haltung der Lehrerschaft der Waldorfschule. Weltanschaulich und politisch ist er abzulehnen und als Lehrer untragbar.» Es gibt Zeiten und Umstände, wo es eine Auszeichnung sein kann, wenn man als «fanatischer Anthroposoph» bezeichnet wird. Heute können wir auf Stockmeyer stolz sein. Seine komplette anthroposophische Bibliothek wurde beschlagnahmt und er hat sie nie wieder zurückbekommen. Die Dokumente dazu habe ich im Staatsarchiv in Freiburg gefunden. Man findet diese Ereignisse in meinem Buch über die erste Waldorfschule beschrieben.
EK | Da werden also nochmal jene Prinzipien deutlich, für die sich Steiner eingesetzt hat und an denen sich die Nationalsozialisten gestört haben, nämlich die Trennung der ethnischen und der politischen Identität.
TZ | Ja, das hängt mit dem Individualismus und mit der Ablehnung des Völkischen zusammen. Es ist zwar nichts Neues, aber ich finde, wenn man Steiners Leben, seine menschlichen Kontakte studiert, dann kann man sehen, wie er seine Weltanschauung und seine Gedanken realisiert hat. Das ist ein Gesichtspunkt, der oft ausgeblendet wird. Diese kritischen Auseinandersetzungen werden oft zu theoretisch gehalten und oft bleibt man an bestimmten gedanklichen Aspekten oder Formulierungen kleben. Sehr wesentlich ist, die gelebte Praxis zu untersuchen. Die gelebte Wirklichkeit ist das Entscheidende, nicht ein theoretischer Streit über Formulierungen aus dem Jahre 1887.
EK | Vielen Dank für das Gespräch!
Tomáš Zdražil, * 1973, hat Geschichte in Prag studiert und promovierte in Erziehungswissenschaften zum Thema Gesundheitsförderung und Waldorfpädagogik an der Universität Bielefeld. Er war Klassen- und Oberstufenlehrer in Semily in Tschechien und lehrt heute an der Freien Hochschule Stuttgart, Seminar für Waldorfpädagogik. 2019 ist sein Buch Freie Waldorfschule in Stuttgart 1919-1925. Rudolf Steiner – das Kollegium – die Pädagogik erschienen. Er leitet in Stuttgart das von Tessin-Zentrum für Gesundheit und Pädagogik mit.
Erstveröffentlichung des Beitrags März 2023 in der Zeitschrift Erziehungskunst.