Diesseits des Politischen – Warum der ideologische Antirassismus mit Waldorfpädagogik unvereinbar ist
Wer am Ende des 20. Jahrhunderts meinte, ethnische und kulturelle Konfliktlinien gehörten zumindest der Tendenz nach der Vergangenheit an, wird seit rund 10 Jahren eines Besseren belehrt. Hautfarbe, Kultur, Abstammung erfreuen sich als Unterscheidungs- und Abgrenzungsmerkmale wachsender Beliebtheit. Das ist nicht zynisch gemeint, denn Haltungen, die sich an ihnen orientieren, werden öffentlich weithin positiv bewertet. In der Tat pocht mancher darauf, dass erst ihre gezielte Berücksichtigung durch soziale Steuerung umfassende gesellschaftliche Gerechtigkeit ermöglicht. Dieser Trend hat jetzt auch die Waldorfpädagogik erreicht.
zur Replik auf diesen Artikel von Frank Steinwachs
In ihrer Ausgabe vom November 2022 skizziert die ›Erziehungskunst‹, Leitmedium des Bundes der Freien Waldorfschulen in Deutschland, ein Programm zur Bekämpfung einer »Bedrohung von rechts« und von Diskriminierung an Waldorfschulen, welches sie in mehreren Beiträgen entfaltet. Im Mittelpunkt steht die Forderung, »Antirassismus« solle Kernbestandteil einer zukünftigen »Waldorfkultur« werden.[1]
Mir geht es nicht um eine Bewertung der Diagnose, sondern einzig der verordneten Medizin: den engen Schulterschluss von Waldorfpädagogik und Antirassismus, und warum dieser meines Erachtens mit den Prinzipien der Waldorfpädagogik unvereinbar ist. Zwei der ausführlicheren Texte möchte ich hier betrachten, weil sie praktische Konsequenzen fordern: Heidi Käfer setzt sich für eine »rassismuskritische Waldorfkultur«[2] ein, und Martyn Rawson und Albert Schmelzer sind bemüht, »Bausteine für eine diverse, antirassistische Waldorfpädagogik« zu skizzieren.[3]
Dass die ›Erziehungskunst‹ dafür plädiert, rechtsextremer Indienstnahme der Waldorfpädagogik planvoller als bisher entgegenzutreten, ist rundheraus zu begrüßen. Die Waldorfgemeinschaft ist in 100 Jahren ein zu großer, zu eng mit gesellschaftlichen Interessen verwobener und öffentlicher Organismus geworden, als dass eine so zentrale Herausforderung halbherzigen Versuchen überlassen bleiben könnte. Dass führende Waldorfakteure damit beginnen wollen, das Phänomen präzise zu beschreiben, seine Entwicklung zu verstehen, seine Schattierungen differenziert herauszuarbeiten und Möglichkeiten der Auseinandersetzung aufzuzeigen, ist gut.
Das Problem besteht darin, dass die Autoren der beiden Texte dies nicht tun. Ihre Artikel kommen ohne Beobachtung tatsächlicher sozialer Verhältnisse aus, pflegen wohlfeile Stereotypen und reden dennoch autoritärem Durchregieren das Wort. Die Dimensionen des rechtsextremen Problems, so es denn existiert, werden nicht nachvollziehbar ermittelt, sondern behauptet, indem ein schablonenhaftes Denken auf ein Zerrbild waldorfpädagogischer Realität angewendet wird. Das Heilmittel – gemäß Theorie durchgesetzte soziale Steuerung – wird nicht begründet, sondern verordnet. Die Methoden, nach denen die Autoren vorgehen, sind einseitig ausgewählt, um vorgefasste Urteile zu stützen, und die Motive, welche sie inspirieren, werden nicht offengelegt. Kurzum: die Texte verletzen grundlegende Maßstäbe wissenschaftlicher Arbeit, bringen jedoch gerade die Wissenschaft in Stellung, um die eigenen Urteile zu begründen.
Ich möchte im Folgenden durch einige Anmerkungen zum methodischen Vorgehen der Autoren, die dadurch entstehenden ethischen Probleme und die Hintergründe des die zwei genannten Texte motivierenden Denkens zeigen, warum das skizzierte Programm eine bemerkenswerte Unkenntnis wesentlicher Prinzipien der Waldorfpädagogik demonstriert und deshalb mit dieser unvereinbar ist.
Die Kernargumente der Texte beruhen auf der Unterstellung der Dringlichkeit einer rechten Bedrohung, wobei ihnen das Kunststück gelingt, zu dem Schluss zu kommen, dass die eigentliche Bedrohung darin besteht, dass die praktische Waldorfpädagogik selbst Muster rechten Verhaltens zeige. Beide Texte suchen daher zu untermauern, dass Waldorfschulen diskriminieren würden, da sie Teil einer diskriminierenden weißen Gesellschaft seien. Ihr Urteil beruht jedoch nicht auf empirischer Betrachtung, denn an keiner Stelle werden konkrete Akteure, Praktiken, Normen oder Haltungen benannt. Zu ihm kommen die Autoren auf dem Wege einer statischen Theorie, die sie einer Karikatur der Wirklichkeit, deren Realität sie bloß behaupten, überstülpen, sowie einem abstrakten Gerechtigkeitsverständnis, das dieser dogmatisch aufgezwungen wird. Beide Texte lassen ein Verständnis differenzierter Strategien der Auseinandersetzung mit dem breiten Spektrum rechter Positionen, die – freilich ohne sich mit diesen gemein zu machen – über bloße Ausgrenzung hinausgingen, vermissen. Was den Texten an kühler Betrachtung, klarer Analyse und praxisnahen Vorschlägen mangelt, das machen die Autoren freilich durch ihre Lust mehr als wett, zu definieren, wer zum waldorfpädagogischen Projekt dazugehört und wer nicht.
Dogmatismus der Gerechtigkeit
Dieses schablonenhafte Vorgehen repräsentiert das Gegenteil einer phänomenologischen Herangehensweise. So schreiten die Autoren des einen Textes, Martyn Rawson und Albert Schmelzer, ohne ihre »Theorie« dargestellt, begründet oder verteidigt zu haben, zügig zur Forderung fort: »Wie lässt sich vor diesem theoretischen Hintergrund die Waldorfbewegung einordnen?«[4] Das Urteil, dass Waldorfschulen Instrumente struktureller rassistischer Diskriminierung seien, kommt ohne Belege aus. Die mangelnde ethnische Parität der Anteile weißer und nicht-weißer Schülerinnen und Schüler genügt. Der schnell urteilende Schritt der Autoren, die sich mit kritischen Fragen zur Methodik oder den Maßstäben ihrer Bewertung nicht aufhalten, ist Ausdruck einer sich wie von selbst abspulenden Deutungsmechanik, deren Unausweichlichkeit durch zahllose »muss«, »ist notwendig « oder »kann sich nicht entziehen« bekräftigt wird. Rein äußerliche soziale Unterschiede sind ihr gemäß allein Ausdruck von Diskriminierung, die durchgreifendes soziales Gegensteuern erfordern.
Dass es sowohl unmöglich als auch wissenschaftlich unlauter ist, in dieser Weise Handlungszwänge aus Theorien abzuleiten, wird unterschlagen. Aus der Tatsache, dass menschliche Freiheit (natur-)wissenschaftlich bisher nicht nachgewiesen werden konnte, folgt nichts für unsere Entschlossenheit, Kinder in Freiheit zu erziehen. Das ist so, weil Werte und Naturgesetze nicht zur selben Erkenntnissphäre gehören. Diskriminierung wird dementsprechend auch nicht wie ein Naturgesetz entdeckt, sondern bedarf stets eines Wertmaßstabs, der begründungsbedürftig ist. Qua Theorie zu urteilen, dass Waldorfschulen (also Lehrer, Eltern und Kinder) diskriminieren würden, weil ihre Schülerschaft nicht dem ethnischen Bevölkerungsdurchschnitt entspricht, ist so unangemessen, wie einer katholischen Privatschule religiöse Diskriminierung vorzuwerfen, weil sie mehrheitlich von katholischen Eltern gewählt wird. Es ist eben diese freie Wahl aufgrund selbst errungener Einsicht, welche eine der Grundfesten auch der Waldorfpädagogik darstellt.
Dieses ihren Urteilen unterlegte Wertegerüst legen Rawson und Schmelzer nicht offen. Daneben wäre auch die Dokumentation ihrer Quellen eine Grundpflicht wissenschaftlichen Arbeitens. Ohne diese bleibt dem Leser verborgen, dass die Thesen der Autoren in der Forschung sehr viel kritischer diskutiert werden als von ihnen dargestellt. Das trifft sowohl auf ihre Definition von Rassismus zu, wie auch auf den Sinn oder womöglich Schaden des gezielten Managements von Diversität, das sie als Antidot gegen Diskriminierung empfehlen, und mehr. Könnte der Leser das Vorgebrachte richtig einschätzen, dann wüsste er, dass die Autoren in Waldorfschulen deshalb so viel Diskriminierung feststellen können, weil sie deren soziologische Definition stillschweigend durch eine sozialaktivistische ersetzt haben. Diese ist allgemeinem Gerechtigkeitsempfinden allerdings kaum vermittelbar, denn ihr zufolge ist Rassismus kein absichtsvoller Akt der Benachteiligung einer Person aufgrund von Hautfarbe oder Herkunft, sondern jeder soziale Unterschied, der von einer solchen Person als Diskriminierung empfunden wird.[5]
Eine solche Gerechtigkeitsvorstellung, die jeden Unterschied durch strukturellen Rassismus erklärt, ignoriert die Freiheit individueller Entscheidung.[6] Sie ist der Überzeugung, ein soziales Ungleichgewicht sei schon deshalb (un-)gerecht, weil eine Theorie dies feststellt. Auch zum empfohlenen Gegenmittel der gezielten sozialen Steuerung durch Diversitätsmanagement lassen die Autoren unerwähnt, dass häufig Zwist und Verteilungskämpfe die Folge sind, wenn paritätischer Ausgleich allein entlang äußerer Merkmale erzwungen werden soll. Die Diversitätsforschung weiß das längst.[7]
Dass Versuche, die Welt allein durch Theorie schematisch in Unterdrücker und Unterdrückte einzuteilen, fruchtlos bleiben müssen, wird an König Musa I. von Mali deutlich, den die Autoren als pädagogisch beispielhaft gewürdigt sehen möchten. Er sei »fromm und großzügig« gewesen. Diese Vorbildlichkeit beruht gleichwohl auf einer sehr selektiven Lesart der Geschichte. Die Autoren erwähnen nicht, dass Mansa Musa nicht nur selbst tausende Sklaven hielt, sondern auch seinen Reichtum durch Ausbeutung erwarb.[8]
Abstraktionen statt Individuen
Die innere Widersprüchlichkeit der Geschichte und ihrer Protagonisten so künstlich einzuebnen, wird, wie hier, gern dazu eingesetzt, politischen Anliegen den Anschein der Unvermeidlichkeit zu verleihen.[9] Dann wird der jahrhundertlang florierende Sklavenhandel innerhalb Afrikas, die führende Rolle von Europäern bei der Abschaffung der Sklaverei oder das bereits erwähnte geistige Fundament des afrikanischen Freiheitskampfes der 60er Jahre in der europäischen Aufklärung als emanzipatorischem Projekt aller Menschen unterschlagen. Die Behauptung der Autoren, dass »ein Großteil unserer heutigen globalen Situation die direkte oder indirekte Folge des europäischen Kolonialismus « sei, ist in dieser Unbestimmtheit unhaltbar. Dass auch der moderne Mensch über Abstammungsgrenzen hinweg mit inneren Widersprüchen kämpft, zeigt schon ein Blick in die Tagespresse, die dokumentiert, dass Donald Trump 2020 einen größeren Anteil an Stimmen von Nicht-Weißen als jeder republikanische Präsident seit 1960 erhielt.[10] Das ist beileibe keine neue Einsicht: Allen sogenannten postkolonialen Argumenten zum Trotz, nach denen Minderheiten stets manichäisch als Unterdrückte und Weiße als Unterdrücker erscheinen, weiß die Forschung längst, dass sich Gruppen intern viel deutlicher unterscheiden als voneinander. Das heißt, dass zuerst Individuen, nicht Gruppen, Träger auszeichnender Charakteristika sind. Nicht-weiße Menschen nicht als politische Abstraktionen zu behandeln, sondern sie in ihrer Eigenständigkeit und Individualität anzuerkennen, würde demgegenüber bedeuten, sie nicht pauschal zu Opfern zu machen.[11] Auch der dritte Text von Heidi Käfer, der sich auf praktische Optionen der Beseitigung von Rassismus an Waldorfschulen konzentriert, kann sich dazu nicht durchringen. Auch er stoppt nur um Haaresbreite vor der Feststellung, welche die Autorin gleichwohl durch den Kontext mehr als nur andeutet, dass Waldorfschulen sämtlich rassistisch seien, da sie weiße Menschen und ihre Interessen konsequent bevorzugten. Auch sie legt dafür keine Belege vor. Als Begründung wird angeführt, dass »jeder Mensch seit der frühen Kindheit erlernte Vorurteile in sich trägt, welche Wahrnehmung, Denken und Handeln beeinflussen.«[12] Erneut wird über dem (fiktiven) Handeln von Akteuren, die nicht persönlich benannt werden, allein aufgrund eines theoretischen Schlusses kollektiv der Stab gebrochen.
Trotz aller Armut an Belegen, wird hier nicht nur die Waldorfbewegung in die Verantwortung genommen, sondern gleich die ganze Gesellschaft. Ungeachtet der Omnipräsenz des Themas Rassismus in der Tagespresse, stellt die Autorin eine mangelnde Bereitschaft der Deutschen fest, sich mit ihrem Rassismus auseinanderzusetzen und stimmt implizit der Autorin Julia Hartmann zu, welche die Gründe dafür darin erkennt, dass Deutschland den Holocaust »als Ausnahmezustand betrachtet«[13]. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier einer Relativierung des Holocausts das Wort geredet wird.
Kritik an derart ausufernder Vorverurteilung wird allerdings zurückgewiesen. Die Autoren scheinen dem sonst nachdrücklich eingeforderten Gebot der gleichberechtigten Teilhabe keine Bedeutung zuzumessen, sobald diejenigen, deren Teilhabe zur Frage steht, die falsche Hautfarbe aufweisen: »Es ist besser für uns alle, wenn wir es akzeptieren. Denn erst dann können wir uns damit auseinandersetzen«[14]. Das antirassistische Projekt soll stattdessen autoritativ, durch »klare[s] Leitungshandeln« durchgesetzt werden. Gefordert wird ein vollumfängliches »überprüfen « von Bildungsmaterialien: »[D]ie gesamte Unterrichts-, Personal- und Schulentwicklung [solle] durchleuchtet« werden.[15] Geistiger Qualität wird eine Absage erteilt: Lehrinhalte sollten der proportionalen Repräsentanz nicht-weißer Autoren entsprechend ausgewählt werden.
Als Antidot für das Bedürfnis, den eigenen kritischen Sinn zu benutzen, bietet die Autorin Diversitätstrainings an, mittels derer Vorurteile wegtrainiert werden sollen, ohne zu erwähnen, dass diese gerade aufgrund dieser rigiden Zielsetzung und ihrer autoritären Struktur höchst umstritten sind.[16] Der »humanistische Umgang«, für den sie dennoch eintritt, wirkt da unglaubwürdig. Man möchte sie daran erinnern, dass die Fähigkeit zur (Selbst-)Kritik und die Freiheit, sich selbstbewusst selbstberufenen Autoritäten entgegenzustellen, für den Humanismus grundlegend ist – übrigens eine Idee westlichen Ursprungs, auf die sich afrikanische Freiheitskämpfer der ersten Stunde ausdrücklich beriefen.[17]
Ursprünge einer »Rassen«-Theorie
Es ist wichtig, den Ursprung jener »Theorie« zu kennen, auf die sich die genannten Texte immer wieder beziehen, deren Name jedoch nie fällt. Die Kritische »Rassen«-Theorie (Critical Race Theory, kurz CRT)) entstand aus der Kritischen Theorie Max Horkheimers und Theodor W. Adornos. Ausgehend von der Frage, wie es den Nationalsozialisten gelingen konnte, abscheulichste Verbrechen im Namen einer aufgeklärten Industrienation zu begehen und rational zu rechtfertigen, beobachteten sie, dass die Erkenntniskraft des rationalen Denkens nicht, wie die Aufklärung noch meinte, grenzenlos ist. Tatsächlich tendiere es dazu, seine eigene eigentümliche Struktur zu übersehen, da nur in sein Blickfeld gerate, was rational auftritt. Rationalität entnimmt also die Maßstäbe, nach denen sie die Welt beurteilt, nicht dieser, sondern konstruiert sie selbst. Da sie jedoch inhaltslos ist und nur den Zwang des formal richtigen Schlusses kennt, bleibt ihr der (nicht-rationale) Eigenwert der Dinge verschlossen. Sie erreicht also das Gegenteil (Unverständnis) dessen, was sie bezweckt (Verständnis).[18]
Diese bestechende Denkfigur überträgt der von der ›Erziehungskunst‹ beworbene Antirassismus auf die Sphäre der Begegnung unterschiedlicher Ethnien. Ihm gemäß begegnen sich hier keine Individuen, sondern allein Kollektive, Gruppenidentitäten im Machtkampf um Weltanschauungen, die sie fälschlich für wahr halten. So wie Rationalität sich die Welt konstruiert, ist daher auch im Zwischenmenschlichen nichts Ideelles wirklich real, sondern allein Kampf um Deutungshegemonie. Sprache wird eine überproportional große Rolle beim Bau dieser Konstruktionen zugeschrieben, weshalb sich der Kampf gegen Diskriminierung vorrangig auf ihre Reglementierung und die Steuerung der Repräsentation von Gruppen konzentriert. Den »blinden Fleck« der Rationalität auf die zwischenmenschliche Sphäre zu übertragen, führt zu dem abstrusen Schluss, dass gerade wer rassistisches Verhalten zu vermeiden strebt, indem er z.B. »Farbenblindheit« praktiziert, sich als Rassist entpuppt. Einige der zentralen Lehren der CRT sind daher, dass alle Weißen aufgrund ihrer Hautfarbe Rassisten sind, dass nur Weiße rassistisch sind, dass sich daran nie etwas ändern wird und dass alle statistischen Unterschiede zwischen Schwarzen und Weißen als Gruppen nur durch weißen Rassismus erklärt werden können. Dass ein Denken, welches die soziale Welt in statische Machtsphären einteilt, kaum zu friedvollem Ausgleich zwischen Bevölkerungsgruppen führen wird, lässt sich derzeit an der versuchten Beeinflussung des US-amerikanischen Schulsystems durch Interessengruppen des ganzen politischen Spektrums beobachten. So reagierte die politische Rechte in den USA auf die von der Linken forcierte Einführung rassengetrennter »Affinitätsgruppen « unter 8-Jährigen in der Schule mit dem Versuch, derartige identitätspolitische Einflussnahme per Gesetz zu verbieten.[19] Vor dem Hintergrund, dass auch Martyn Rawson und Albert Schmelzer Schule dazu einsetzen möchten, »kohärente Identitäten aufzubauen«, möchte man nachfragen, ob den »weißen Räumen«, die sie beklagen, nun auch hier geschlossene nicht-weiße entgegengesetzt werden sollen.
Unvereinbar mit Waldorfpädagogik
Dass eine solche Kritik schrankenloser Rationalität, die zugleich die Bedeutung der Subjektivität betont, auf Anthroposophie und Waldorfpädagogik anziehend wirkt, erscheint nachvollziehbar. Doch der »Antirassismus« des hier kritisierten Programms stellt nicht nur Grundwerte der Anthroposophie und Waldorfpädagogik in Frage, sondern ist auch mit einem liberalen Weltbild, das ihr Fundament bildet, unvereinbar.[20] Ich umreiße die drei Hauptgründe noch einmal.
Das antirassistische Programm ist illiberal. Da für dieses die Welt entlang von Machtverhältnissen strukturiert ist, die kollektiv konstruiert werden, kann es nur Gruppenidentitäten und keine Individuen geben. Ursprüngliche Wahl und damit individuelle Freiheit sind unmöglich. Erkenntnis ist keine individuelle schöpferische Leistung mehr, sondern folgt Strukturen der Machtentfaltung. Damit entfällt auch das Ideal einer Ethik der Selbsterkenntnis und Selbstverbesserung, denn als bloßer Teil einer Gruppe kann sich der Einzelne nicht aus eigener Initiative über seine Stellung in der Welt aufklären oder diese gar kreativ verändern. Das Programm etabliert stattdessen eine Expertokratie der Belehrung, in der es allein Vertretern benachteiligter Gruppen zusteht, »Machtinhaber« über ihre blinden Flecken zu belehren, die diese prinzipiell nicht zu erkennen vermögen.
Das Programm ist zutiefst mechanistisch. Es teilt die Welt starr in Machtinhaber und Machtlose ein. Es gibt keine von Machtstrukturen unabhängige Wirklichkeit, folglich keine unabhängigen Phänomene, nichts, das sich dem Menschen eigenständig mitteilen wollte. Wahrheit ist damit prinzipiell unmöglich; es gibt nur das, was Mächtige dafür halten.[21] Folglich kann es keine allgemeinverbindlichen Normen und damit kein Allgemein-Menschliches geben.
An beider Stelle tritt das politische Spiel mit der Sprache. Da sie ihrerseits Ausdruck von Machtverhältnissen ist, ist echtes Verständnis zwischen Menschen nicht mehr möglich. Die zentrale Bedeutung verständnisvoller vermittelnder Kommunikation wird so eliminiert, die Konfrontation von Macht durch mehr Macht zum erstrebenswerten Normalfall (»cancel culture«). Macht zeigt sich jedoch im Alltag meist als fließendes Wechselverhältnis, das auf Kompetenz basiert, also legitim zustande kommt und sinnvolle Zwecke erfüllt. Dass die machtvolle Rolle des Piloten am Beginn eines Urlaubsflugs nicht »egalitär« unter den Reisenden ausgelost wird, ist beispielsweise eine sehr nützliche Idee. Derart in Kompetenz begründete Unterschiede sind auch für die Anthroposophie elementar. In der von den Autoren vertretenen Theorie gibt es gleichwohl keine Metamorphose, keine organische Wechselseitigkeit, keine lebendigspielende Harmonie der Opposition. Indem das Programm den rational gesteuerten Umbau der Gesellschaft entlang äußerer Kriterien wie Hautfarbe durchzusetzen sucht, geht nicht nur der individuell-übende Aspekt der Anthroposophie zugunsten eines Dirigismus von oben verloren; es lässt außerdem uralte Rassismen wieder aufleben. Dieses Weltbild ist mit dem monistischen Rudolf Steiners, das Wirklichkeit und Wahrnehmung ästhetisch in Ausgleich zu bringen sucht, unvereinbar.
Zuletzt ist das Programm ideologisch. Da Wirklichkeit und Wahrheit in einer machtgeprägten Welt keinen Bestand haben, sondern bloße Standpunkte im Machtdiskurs sind, gibt es keinen gleichberechtigten Zugang zur Wahrheit. Damit ist auch der Demokratie der Boden entzogen. Kritik von jedem, der als Machtinhaber gilt, kann als unberechtigt zurückgewiesen werden, bevor es überhaupt zur inhaltlichen Auseinandersetzung kommt. Da Kritik nur noch von Vertretern der Theorie selbst akzeptiert wird, kann sich das antirassistische Programm gegen jeden potenziellen Einwand immunisieren.
Es scheint kaum möglich, dem lebendigen Geist konsequenter eine Absage zu erteilen. In der Kritischen »Rassen«-Theorie hat sich eine wirklichkeitsvergessene Sozialtheorie vollständig in die Knechtschaft einer abstrakten Idee begeben, welche sie der aus Freiheit geführten Vielfalt realer Begegnung vorzieht. Von höherer Warte aus betrachtet, sind die zwei Texte vor allem aufgrund ihrer scheinbar neutralen Forscherhaltung kritikwürdig, durch die sie ihren Urteilen eine wissenschaftliche Aura verleihen, um sie methodischer Kritik und demokratischem Streit zu entziehen.[22] Sie tun damit nicht nur dem Ideal der Wissenschaftlichkeit Gewalt an, sondern auch jenen, die ernsthaft um ein Verständnis dieser Fragen ringen. Jeder Versuch sozialer Neugestaltung, der so weitreichend wie der hier vorgebrachte auftritt, muss neben einem methodisch nachvollziehbaren Vorgehen und einer Offenlegung seiner Bewertungsgrundlagen seine demokratische Legitimität deutlich machen. Es wäre zu wünschen gewesen, die ›Erziehungskunst‹ hätte das wichtige Thema der Diskriminierung im Umfeld der Waldorfbewegung als ergebnisoffene und partnerschaftliche Suche nach Lösungswegen thematisiert, in einer Weise, die ihre Leserinnen und Leser dazu befähigt, sich ihr eigenes Urteil zu bilden.
Es lohnt, an dieser Stelle noch einmal daran zu erinnern, warum Rudolf Steiner demokratische Willensbildung schätzte. Eine Erklärung lautet, dass die Demokratie die paradigmatisch organische Staatsform ist, weil sie es vermag, radikale Gegensätze zu integrieren und an ihnen zu wachsen, indem sie sich diese produktiv anverwandelt, nicht ausgrenzt. Dies ist der Weg des Autoritarismus, der Konflikte nur mit einem Mehr an Macht überwindet, indem er »klare Kante zeigt«.
Individualität jenseits des Politischen
Versuche, individuelle Benachteiligung durch soziale Steuerung auszugleichen, die an Gruppen ansetzt, sind nur um den Preis neuer Stereotype zu haben. So wie ich »wahre Anthroposophie« definieren muss, wenn ich sie gegen Unterwanderung zu schützen beabsichtige, so muss ich benennen, was einen Migranten, einen Schwarzen, einen Mann usw. ausmacht, wenn ich diese Gruppen besserzustellen suche. Indem ich die Gruppe in den Blick nehme, sehe ich notwendig vom Individuum ab.
Doch mit welchem Recht gehen wir davon aus, dass die Vertreter dieser Gruppen vorrangig über kollektive Eigenschaften wie Migrationshintergrund oder Hautfarbe identifiziert werden möchten? Ich bin iranischer und deutscher Abstammung mit Jahrzehnten familiärer Fluchterfahrung. Warum sollten diese Eigenschaften Wesentliches über mich aussagen? Warum sollten sie meine politische Einstellung oder mein künstlerisches Interesse prägen? Individuen aufgrund von Gruppenmerkmalen Einstellungen zuzusprechen, drängt sie in soziale Rollen und spricht ihnen ihre Autonomie ab, selbst zu definieren, wer sie sein wollen. Es versagt außerdem dem Geistigen die Freiheit, die es braucht, sich zu entfalten. Diese eröffnet sich, wie das Individuelle überhaupt und damit das Wesen der Waldorfpädagogik, erst jenseits des Politischen. Es ist diese Sphäre des Eigenwerts des Individuellen, die nicht nur in Texten wie diesen zunehmend aus dem Blick gerät, und die der waldorfpädagogischen Gemeinschaft Sorgen bereiten sollte. Ich kann heute kaum ein Theater besuchen, kaum eine Nachrichtensendung hören oder ein Geschäft betreten, ohne mich daran erinnern lassen zu müssen, welcher Ethnie ich entstamme, welcher Hautfarbe oder welchen Geschlechts ich bin. Jeder dieser Orte fordert mich heute auf, mich zu einer Gruppenidentität zu bekennen. Die Räume, in denen ich sein darf, wer ich sein möchte, werden kleiner und kleiner.
Dass meine Waldorfschulzeit die Räume meiner geistigen Entfaltung nicht in dieser Weise geformt hat, habe ich als befreiend empfunden. Meine Identität konnte durch die Begegnung mit all jenen »weißen Räumen« geprägt werden, von denen sich nicht nur die Autoren und Autorinnen der besprochenen Texte zunehmend bedroht fühlen: österreichische Literatur, europäische Philosophie, deutsche Lyrik und mehr. Möglich war das, weil meine Waldorfschule kompromisslos auf meine Individualität setzte. Als Bewegung sollte sie sich ihrer politischen Dimension durchaus bewusst sein, ihr pädagogischer Blick jedoch auf den geistigen Ort jenseits des Politischen gerichtet bleiben.
Meine Tochter wird in etwa fünf Jahren eingeschult. Geht es nach dem Willen der genannten Autorinnen und Autoren, wird ihre Hautfarbe dann eine größere Rolle als bei meiner eigenen Einschulung spielen. Ich würde das als einen außerordentlichen Verlust an der Substanz der Freiheit betrachten, welche die Waldorfpädagogik stets für mich verkörperte. Eine Blessur, die mir kaum wieder heilbar schiene.
BIJAN KAFI | hat Germanistik und Philosophie studiert und leitet die Kommunikation der wissenschaftlichen Förderstiftung Hanse-Wissenschaftskolleg. Zuvor war er Referent für Öffentlichkeitsarbeit der Kulturstiftung des Bundes im größten Programm der Bundesregierung zur Förderung kultureller Diversität an deutschen Kultureinrichtungen. Er hat außerdem anthroposophische Einrichtungen in der Kommunikation beraten. Sein Forschungsinteresse konzentriert sich auf die philosophischen Fundamente von Rudolf Steiners gesellschaftskritischem Denken.
[1] Vgl. ›Erziehungskunst‹11/2022 – https://www.erziehungskunst.de/service/download-zeitschrift
[2] Vgl. Heidi Käfer: ›Zuhause und in der Schule fängt’s an – Eine rassismuskritische Waldorfkultur‹, in: a.a.O., S. 19-22.
[3] Vgl. Martyn Rawson & Albert Schmelzer: ›Bausteine für eine diverse, antirassistische Waldorfpädagogik‹, in: a.a.O., S. 23-27.
[4] Martyn Rawson & Albert Schmelzer: op. cit., S. 24.
[5] Vgl. Sebastian Wessels: ›Die Inkohärenz des systemischen Rassismusbegriffs‹, in Andreas Stahl u.a. (Hrsg.): ›Probleme des Antirassismus – Postkoloniale Studien, Critical Whiteness und Intersektionalitätsforschung in der Kritik‹, Berlin 2022, S. 67ff.
[6] Vgl. Olga Khazan: ›The More Gender Equality, the Fewer Women in STEM‹, in: ›The Atlantic‹ 2/2018 – www.theatlantic.com/science/archive/2018/02/the-moregender-equality-the-fewerwomen-in-stem/553592
[7] Vgl. Sebastian Tillmann: ›Diversity in der Praxis. Zwischen Evidenz und Aktionismus‹, in Andreas Stahl u.a. (Hrsg.): op. cit., S. 155-178.
[8] Vgl. den Eintrag in der ›Encyclopedia Brittanica‹ – www.britannica.com/biography/ Musa-I-of-Mali
[9] Vgl. Nigel Biggar: ›Colonialism – A Moral Reckoning‹, Glasgow 2023.
[10] Samuel Kronen: ›A Plea for a Humanist Antiracism‹, in: ›Areo Magazine‹ – https://areomagazine.com/2020/11/19/a-plea-for-a-humanist-antiracism
[11] Vgl. Olúfemi O. Táíwò: ›Against Decolonization: Taking African Agency Seriously‹, London 2022, und ders.: ›Elite Capture: How the Powerful Took Over Identity Politics (And Everything Else)‹, Chicago 2022.
[12] Vgl. Heidi Käfer: op. cit., S. 21.
[13] Jan Gerber: ›Der Antisemitismus der postkolonialen Theorie‹, in: ›Frankfurter Allgemeine Zeitung‹ – www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/der-antisemitismusder-postkolonialen-theoriedie-kontinuitaet-des-kolonialen- blicks-18328667.html
[14] Vgl. Heidi Käfer: op. cit., S. 20.
[15] A.a.O., S. 22.
[16] Vgl. Sebastian Tillmann: op. cit.
[17] 17 Vgl. Olúfemi O. Táíwò: ›Against Decolonization‹, S. 39f.
[18] Vgl. Max Horkheimer & Theodor W. Adorno: ›Dialektik der Aufklärung – Philosophische Fragmente‹, Frankfurt a.M. 2022.
[19] 19 Vgl. Joanna Williams: ›Amerikas Eltern revoltieren‹, in: ›Novo Argumente‹ – www.novo-argumente.com/artikel/amerikas_eltern_revoltieren
[20] Vgl. John McWhorter: ›Die Erwählten – Wie der neue Antirassismus die Gesellschaft spaltet‹, Hamburg 2022.
[21] Vgl. Ulrike Marz: ›Critical Whiteness. Theoretische Einordnung und Grenzen des Ansatzes für die Rassismuskritik in Deutschland‹, in Andreas Stahl u.a. (Hrsg.): ›Probleme des Antirassismus‹, S. 15-46.
[22] Vgl. Helen Pluckrose & James Lindsay: ›Zynische Theorien – Wie aktivistische Wissenschaft Race, Gender und Identität über alles stellt – und warum das niemandem nützt‹, München 2022.