Ja, Rechtsextreme nutzen zum Teil dieselben Wörter wie Steiner und versuchen mit dieser Übernahme zu punkten. Zum Beispiel der Begriff „Dritter Weg“ – heute der Name einer rechtsextremen Kleinpartei. Er stand Ende der 80er Jahre für eine progressive Perspektive im Systemwettstreit zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Anthroposophen waren damals an der Entwicklung dieser progressiven Idee beteiligt, in der Kleinstpartei spielen sie keine Rolle.
Hier aber endet die Gemeinsamkeit – prinzipiell! Eindrücklich muss vor 100 Jahren beispielsweise folgende Szene gewesen sein: Rechtsradikale Schläger versuchten 1922 Rudolf Steiner nach einem Vortrag in München zu ermorden. Bewaffnet mit Pistolen, Dolchen und Totschlägern stellten sie ihm nach. Steiner kam dank des beherzten Eingreifens seiner Freunde um Haaresbreite mit dem Leben davon.
Auch in der Gesellschaftskritik gibt es deutliche Unterschiede: Die für die nationalsozialistische und teilweise auch rechtsextreme Staatsphilosophie konstitutive Begriffsverknüpfung von Nationalismus und Sozialismus widerspricht der individualistischen Perspektive von Steiner. Wenn der Nationalismus das Individuum seiner Herkunftsgemeinschaft (Nation) unterordnet, dann tut es der Sozialismus auch – mit dem Unterschied, dass die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft mit sozialen bzw. Klassen-Kriterien definiert wird. Diese Unterordnungen stehen in fundamentaler Opposition zu Steiners Staatsphilosophie. Denn diese ordnet gerade nicht das Individuum dem Kollektiv unter, sondern beschreibt die Entfaltungsräume, die das Individuum schrittweise befähigen können, eine weltweite Verantwortung für alle Individuen (unabhängig von ihrer Herkunft und gesellschaftlichen Stellung) zu übernehmen. Dieser gesellschaftspolitische Gedanke hat die anthroposophische Praxis im 20. Jahrhundert in der Pädagogik, Landwirtschaft und Medizin erfolgreich gemacht.
Nationalsozialisten damals und manche Akteure, die heute eine politische oder kollektivistische Querfront anstreben, meinen oft, ihre eigenen Intentionen seien mit denen der Anthroposophie gleichzusetzen. Damit unterschlagen sie aber den scharfen und konsequenten Unterschied, denn im Zentrum der Anthroposophie steht nicht die Weiterentwicklung des Kollektivs nach kollektivistischen Kriterien, sondern die globale gesellschaftliche Entwicklung auf der Grundlage des freien und verantwortungsvollen Individuums.
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Matthias Niedermann