Das ist eine komplexe Geschichte. Rudolf Steiner war schon vor Beginn der NS-Zeit gestorben, Leiter der deutschen Anthroposophen war zu dieser Zeit Hans Büchenbacher. Er war nach Nazi-Kategorien „Halbjude“ und gab sein Amt auf, um die Anthroposophie aus der ideologischen Schusslinie zu nehmen. Aber es half nichts, 1935 wurde die Anthroposophische Gesellschaft verboten.
Bemerkenswerte Episode: Mehrfach schickten die Nazis Gutachter los, um zu sondieren, ob es nicht doch ideologische Brücken zwischen ihrer Weltanschauung und der Anthroposophie geben könne. Das Ergebnis war immer negativ. Leider, so die NS-Prüfer, lehnten die Anthroposophen den zentralen „Gedanken von Blut, Rasse, Volk“ ab, ebenso die „Idee vom totalen Staat“; Waldorfschulen mit ihrer freien Selbstorganisation seien eine „ungeheure Gefahr“ für den Aufbau einer stramm nationalsozialistischen Erziehung; und überhaupt habe schon Rudolf Steiner statt vom „Volk“ ständig von der „Menschheit“ gesprochen. Man sagt es nicht gern, aber die Nazis hatten die Sache besser verstanden als viele heutige Steiner-Kritiker.
Zur Wahrheit gehört allerdings auch: Die Stimmung der ersten Hitler-Jahre, der vermeintliche große nationale Aufbruch, erfasste auch viele Anthroposophen. Auch bei ihnen, berichtet Hans Büchenbacher, gab es viele NS-Sympathisanten. Es gab sogar einen biodynamisch orientierten Anthroposophen, der im KZ Dachau einen pflanzlichen Versuchsgarten betrieb. Andere Anthroposophen saßen zur gleichen Zeit selbst im KZ. Einige unter ihnen, die einen jüdischen Hintergrund hatten, wurden ermordet. So der Komponist Viktor Ullmann, die Geigerin Alice Wengraf und das Malerpaar Hilde Kotanyi und Richard Pollak – beide waren jahrelang an der künstlerischen Gestaltung des ersten Goetheanums in Dornach beteiligt gewesen.
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Wolfgang Müller