Hier äußerte sich Steiner widersprüchlich. Ja, Steiner hat sich ab seinem 35. Lebensjahr immer mehr für die wahrnehmbare Wirklichkeit interessiert, also auch für Farben. Davor waren ihm – so schildert er es in seiner Autobiographie – philosophische Überlegungen näher. Als Goethe-Kenner interessierte er sich generell für die „seelisch-sittliche Wirkung“ der Farben. Eine Idee, mit der viele Maler gearbeitet haben und über die in der Kunstgeschichte viel nachgedacht wurde. Außerdem war Steiner der Überzeugung, dass die Farben in der Pflanzen- und Tierwelt, aber eben auch am menschlichen Körper Hinweise für „seelisch-sittliche“ Qualitäten sind, die zum jeweiligen Lebewesen dazu gehören.
Richtig ist, dass Steiner sich nach heutigem Verständnis in einzelnen wenigen Passagen abfällig zur schwarzen Hautfarbe äußert. Wahr ist aber auch, dass Steiner nie einen Menschen als Individuum mit seiner physischen Erscheinung gleichsetzte. Er war der Überzeugung, dass alle Menschen – gerade weil jeder sich zurecht auf seine eigene Individualität berufen kann – gleich an Würde und Rechten sind und körperliche Merkmale höchstens eine nachrangige Bedeutung haben. In diesem Sinne ist die Hautfarbe für Steiner bedeutungslos. Seine grundlegenden Gedanken über den Menschen unterminieren sogar rassistische Denkweisen.
Scheinbar widersprüchlich, komplex, aber nicht per se rassistisch sind Steiners geschichtsphilosophische Entwicklungsgedanken. Wie alle seine Zeitgenossen hat er über Rassen nachgedacht. Das heißt aber nicht, dass er automatisch ein Rassist war, der beispielsweise schwarze Menschen ausgrenzen wollte. Vielmehr war er der Überzeugung, dass kollektivistische Kategorien und Ideale in der Vergangenheit eine Berechtigung gehabt haben, sie aber für die Zukunft an Bedeutung verlieren müssten.
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Matthias Niedermann