Um dies zu behaupten, muss man die Dinge schon sehr verdrehen. Bereits mit zwanzig reagiert er spontan empört auf die antisemitischen Töne in einem Buch des Philosophen Eugen Dühring. Zwei Jahrzehnte später engagiert er sich im „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“. Er kritisiert die „abgestandenen Plattheiten“ der Antisemiten und registriert „mit Schaudern“ ihren kulturellen Einfluss. Allenfalls kann man sagen, dass Steiner in seinen frühen Jahren den Antisemitismus eher als hässliche Zeiterscheinung sah und – wie fast alle – dessen mörderische Dynamik unterschätzte.
Als Beleg für Steiners Antisemitismus wird oft eine in der Tat drastische Passage zitiert, die er 1888, mit 27, im Kontext einer Theaterkritik schrieb. Darin attestierte er dem Judentum, es habe sich „längst ausgelebt“, und dass es sich dennoch erhalten habe, sei „ein Fehler der Weltgeschichte“. Zu verstehen war dies aber selbstverständlich nicht (wie bei den Antisemiten) als negative Charakterisierung jüdischer Menschen, sondern als eine Art gesellschaftliches Statement: Das Judentum als weitgehend abgeschlossene Gemeinschaft, die sich möglichst nicht mit der übrigen Bevölkerung vermischen solle, sei nicht mehr zeitgemäß. Es war die Forderung nach Assimilation, wie sie auch von vielen Juden damals verfochten wurde. Die meisten unter ihnen wandten sich konsequenterweise auch gegen den damals aufkommenden Zionismus, also das Streben nach einem eigenen „Judenstaat“. Ihre Vorbehalte teilte auch Steiner.
Allerdings, ein Aspekt ist zu ergänzen, der in den heutigen Diskursen schwer zu besprechen ist; er führt in tiefe geistesgeschichtliche Zusammenhänge. Steiner sprach dem frühen biblischen Judentum mit seinem strengen, bilderlosen Monotheismus eine bedeutende Rolle in der menschlichen Bewusstseinsentwicklung zu, etwa bei der Ausbildung einer Abstraktionsfähigkeit, die Fernwirkungen bis zur modernen Wissenschaft habe. Zugleich aber sah er im Auftreten Christi etwas menschheitlich völlig Neues, eine Wendung ins tief Persönliche, die über das frühe Judentum (und auch über die antiken Weisheitslehren) hinausführte. – In solchen Gedanken kann man eine Wiederkehr christlicher Überlegenheitsvorstellungen sehen – oder eben die Einsicht in komplexe menschheitliche Entwicklungsprozesse, weit jenseits aller konfessionellen Zuordnungen. So sahen es offenkundig auch die zahlreichen jüdischen Anthroposophinnen und Anthroposophen.
—
Wolfgang Müller