In der Tat gibt es bei Steiner – sehr verstreut in seinem Werk – hässliche, abwertende Aussagen etwa über Afrikaner oder über die Ureinwohner Amerikas. Manche seiner Kritiker sehen die Gefahr solcher Wertungen schon in seinem Entwicklungsdenken angelegt. Tatsächlich ging Steiner davon aus, dass es im Entwicklungsgang der Menschheit eine Art Richtung gibt, dass einzelne Kulturen dabei zu gewissen Zeiten pionierhaft waren (etwa die indische, jüdische oder griechische), dass es aber auch kulturelle Niedergänge gibt, mitunter auch notwendige Verzögerungen oder produktive Seitenwege. Ein solches Geschichtsverständnis tendiert zweifellos zu Hierarchisierungen und zu Wertungen, im positiven wie im negativen Sinn. Letzteres zum Beispiel, wenn Steiner bestimmte Kulturen als dekadent oder überlebt bezeichnet. Verdächtig auch, dass er der europäischen, zumal der mitteleuropäischen Kultur für unsere Epoche eine besonders zukunftsweisende Rolle zuschreibt; in der nächsten Epoche werde diese Rolle der slawischen Kultur zufallen.
An sich war ein solches Denken in Kategorien von „Fortschritt“ und „Rückständigkeit“ gerade seit dem 19. Jahrhundert weit verbreitet. Man findet es in unterschiedlicher Form bei fast allen Autoren, von Karl Marx, der nationale Minderheiten wie Basken und Bretonen als „Völkerabfälle“ bezeichnete, bis zum vielbewunderten „Urwalddoktor“ Albert Schweitzer, der sehr herablassend über Afrikaner sprach. Allerdings, selbst wenn man – bei ihnen wie bei Steiner – zeitbedingte Vorurteile und Eurozentrismen ausblendet, bleibt eine Grundsatzfrage: Will man behaupten, dass im Prinzip alle Völker und Kulturen zu jeder Zeit in ihrer Entwicklung und Eigenart quasi synchron waren? Damit würde man in ein belangloses Alle-entwickeln-sich-irgendwie ausweichen. Oder versucht man die realen Abläufe in ihrer ganzen Vielfalt in Ort und Zeit sichtbar zu machen? Dann wäre von außerordentlichen historischen Phasen zu sprechen (das alte Ägypten, die italienische Renaissance …), aber auch von Stagnationen und fragwürdigen oder gar katastrophalen Entwicklungen. Um klare Wertungen und Zuordnungen wird man im Einzelfall ohnehin nicht herumkommen. Mit Recht würde niemand den Holocaust diffus der ganzen Menschheit zuschreiben – nein, er war ein Produkt der deutschen Geschichte.
Steiner ging es offenkundig um ein solches prozesshaftes, ins Einzelne gehendes Verständnis der Menschheitsentwicklung. Man kann sehr wohl manche seiner Aussagen dazu falsch und manche Wertungen indiskutabel finden und doch die Grundidee einer vielschichtigen, konturenreichen historisch-geistigen Geschichtserzählung teilen. Steiner war eben immer ein Denker des Konkreten. Er sah wohl auch eine epochale Lernaufgabe darin: Unterschiede nicht zu verwischen, sondern zu klären und die Dinge durch Erkenntnis in eine bessere Richtung zu führen.
Man kann sich dem Thema noch von einer anderen Seite nähern. Ein zentrales Ziel rassistischer Ideologien ist stets eine Ordnung der Menschheit nach ethnischen Maßstäben: Jede Gruppe, jedes Volk soll sozusagen „für sich“ bleiben. Charakteristisch für Steiner ist nun, dass er auch dieses Thema, wie eigentlich alles, entwicklungsmäßig fasst. So hätten Abstammungsgemeinschaften mit einer klaren Abgrenzung von Innen und Außen in frühen Menschheitsphasen ihre Bedeutung gehabt. Das drückte sich im Sozialen aus (Heirat möglichst in der eigenen Gruppe), aber auch im Geistigen: Jedes Volk hatte seine eigene Götterwelt. Schon die Universalreligionen wie das Christentum und der Islam erstrebten demgegenüber einen Übergang ins Menschheitliche (zumindest dem Anspruch nach wandten sie sich an jeden Menschen, unabhängig von Abstammung und Herkunft). In unserer Zeit schließlich gilt dies laut Steiner noch viel entschiedener: „Ein Mensch, der heute von dem Ideal von Rassen und Nationen und Stammeszugehörigkeiten spricht, der spricht von Niedergangsimpulsen der Menschheit.“
Man stößt hier auf ein gedankliches Leitmotiv bei Steiner: Etwas, das zu einer bestimmten Zeit richtig und angemessen war, kann ins Negative, Reaktionäre umschlagen, wenn seine Zeit vorbei ist. (Überhaupt fasst er negative Kräfte niemals statisch-absolut, sondern als etwas, das nur in Ort und Zeit fehlplatziert ist. Ein Notizbuch-Eintrag: „Es gibt kein Böses. Das Böse ist nur ein versetztes Gutes.“)
Anders gesagt: Für eine Gemeinschaftsbildung in unserer Epoche sollte nicht mehr die Herkunft bestimmend sein, auf die rassistische Ideologien fixiert sind, heute müssen andere Maximen in den Vordergrund treten. Steiner: „Die Menschheit mischt sich, um sich von geistigen Gesichtspunkten aus zu gruppieren.“ (Dies wäre wahrlich ein ungewöhnlicher Satz für einen Rassisten.)
Entsprechende Grundsätze galten und gelten selbstverständlich auch für die anthroposophische Bewegung selbst, in der nach Steiners Vorstellung Menschen ohne jeden Unterschied der Herkunft zusammenfinden sollten. Anders kann es letztlich auch nicht sein, angesichts der tiefen Orientierung der Anthroposophie am Individuum und seinen freien Entfaltungsmöglichkeiten. Die bewusste Emanzipation des einzelnen Menschen aus seinen Prägungen durch Abstammung und Sozialisation ist geradezu eines der Hauptthemen der Anthroposophie!
Insgesamt also: Ja, es gibt in Steiners Werk diskriminierende Äußerungen über bestimmte Kulturen und Völker. Man kann ganze Vortragszyklen von ihm lesen, ohne auf solche Stellen zu stoßen, aber es gibt sie. In seiner Grundstruktur aber, in seiner ganzen Anlage und Blickrichtung, ist Steiners Denken menschheitlich und human orientiert. Es hatte schon seinen Grund, dass völkische Gruppen immer wieder seine Vorträge störten und dass Hitler schon 1921 in einem Artikel im Völkischen Beobachter Steiner angriff.
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Wolfgang Müller