Hier zeigt sich exemplarisch, was historische Komplexität ist. Steiners gesellschaftspolitische Ideen – kurz die „Soziale Dreigliederung“ – wurden manchmal sehr prominent öffentlich diskutiert und manchmal blieben sie verborgen im „Untergrund“. Rückblickend vertritt der Philosoph Peter Sloterdijk die Meinung, dass Steiners Ideen besonders dort wirksam waren und sind, wo sie heute nicht mit ihm in Verbindung gebracht werden.
Geburtsstunde dieser Ideen ist die Zeit des Ersten Weltkriegs. Dieser war für Steiner u. a. ein Ergebnis von überholten, längst unzeitgemäßen politischen Konzepten und veranlasste ihn, sich für eine neue Gesellschaftsform einzusetzen. Seine Ideen verstand er als einen Versuch, dem sich abzeichnenden Konflikt der Gesellschaftssysteme „Kapitalismus vs. Kommunismus“ eine integrierende Idee entgegenzustellen – die des freien und vernunftbegabten Menschen. Seiner Ansicht nach scheiterte er aber damit.
Als dann nach seinem Tod (1925), die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen, meinten einige wenige Anthroposophen – Steiners Intentionen völlig verdrehend –, dass sich nun diese Ideen verwirklichen ließen. Viele jedoch flüchteten ins Ausland, und spätestens 1935 mit dem Verbot der Anthroposophie und der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland entpuppte sich dieser Wunsch als fundamentale Illusion.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die „Soziale Dreigliederung“ in den 60er-Jahren in Deutschland öffentlich diskutiert. Sie erlebte eine Blütezeit – etwa bei der Gründung der Partei der „Grünen“ oder des „Omnibus für direkte Demokratie“ durch Joseph Beuys. In der DDR entfaltete sie ihr Exil-Dasein, wie andere oppositionelle Subkulturen auch, im kirchlichen Rahmen, oder wurde – von der Staatsicherheit argwöhnisch beobachtet – in Privatwohnungen diskutiert. Erst die Wende brachte eine Wende. Während der Zeit der Wende zu Beginn der 90er-Jahre brachten einige Anthroposophen sogar eigene „Arbeitsthesen für eine bedürfnisorientierte assoziative Wirtschaft“ in die Debatten ein.
Einer der bekanntesten öffentlichen Vertreter von Steiners sozialen Ideen dürfte der Unternehmer und Anthroposoph Götz Werner sein, der die Idee des „bedingungslosen Grundeinkommens“ in Deutschland populär gemacht hat. Ob jenes zur „Sozialen Dreigliederung“ passt, ist indes umstritten.
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Matthias Niedermann