In die üblichen Kategorien war er kaum einzuordnen. Zeitweise nannte er sich einen „individualistischen Anarchisten“. Über Jahre unterrichtete Steiner auch an der von Wilhelm Liebknecht gegründeten, stramm sozialistischen Arbeiterbildungsschule in Berlin.
Aber von den traditionellen sozialistischen Konzepten unterschied ihn doch viel. Vor allem hielt er deren Fixierung auf zentrale staatliche Lösungen für grundfalsch. Unserem Zeitalter mit dem in allen Menschen lebenden Verlangen nach Individualität und Freiheit sei das nicht mehr angemessen. Statt von staatlichen Großsystemen her zu denken müsse – umgekehrt – der Ausgangspunkt immer die freie Entfaltung der Menschen sein und die Frage, wie von hier aus Gemeinschaft entstehen kann.
An diesem Punkt kann die Anthroposophie leicht missverstanden werden, so als laufe ihre Orientierung am Individuum auf eine neoliberale Egoistenwelt hinaus oder jedenfalls auf einen sozial wenig interessierten bürgerlichen Individualismus. Das Gegenteil ist der Fall. Solche Ego-Fixierungen sind nur der Ausdruck einer Kultur, in der das Individuum in Wirklichkeit übergangen und missachtet wird. Wo sich Menschen tatsächlich in ihrem Wesen und Tun anerkannt fühlen und entwickeln können, werden sie sich einander öffnen und zuwenden. Vielleicht liegt in diesem Gedanken die tiefste Vertrauensdimension der Anthroposophie: Freie Entfaltung wird die Menschen nicht auseinandertreiben, sondern zusammenführen. Sie wirkt, wie Steiner wieder und wieder ausführte, nicht antisozial, sondern sozial.
Das ist auch der Grund, warum er ein „freies Geistesleben“ für so unermesslich wichtig hielt, also eine gesellschaftliche Atmosphäre, in der sich alles Menschliche möglichst frei ausdrücken kann und in der sich insbesondere alle Gesichtspunkte der Erkenntnis frei artikulieren können, unbeeinflusst durch staatliche Einwirkungen oder wirtschaftliche Interessen.
Die staatliche Ebene wäre dann nicht („anarchistisch“) vollständig abzuschaffen, aber auf das Nötigste zu beschränken, ohne die heutige, immer tiefer ins Leben eingreifende Regulierungstendenz, die letztlich zu Passivität und zu einer schleichenden Entmündigung der Menschen führt. Auch den ideologischen Überbau des Nationalismus, wie er sich in allen neuzeitlichen Staaten entwickelte, hielt Steiner für längst überholt und sah ihn als Ausläufer alter kollektiver Sehnsüchte.
Im Wirtschaftlichen wiederum setzte er sich für assoziative Formen ein, die der unternehmerischen Initiative großen Raum lassen, aber Machtkonzentrationen und Abhängigkeitsverhältnisse verhindern, wie sie heute überall herrschen.
Erstens ein freies Geistesleben, zweitens eine nüchterne Ordnung der politisch-rechtlichen Ebene und drittens eine solidarisch gestaltete Wirtschaft – das nannte Steiner „soziale Dreigliederung“. Es ist – aus anthroposophischer Sicht – die noch kaum erkannte, aber unserer Epoche angemessene Weise, eine menschliche Gesellschaft zu gestalten.
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Wolfgang Müller