Eine zentrale. Rudolf Steiner sah sogar eines seiner wichtigsten Anliegen darin, unserer Epoche einen Zugang zu diesem Thema zu öffnen. Zugleich ist es wohl der Aspekt, an dem seine Weltsicht am deutlichsten von der abendländischen Tradition abweicht. Zwar erwog schon Lessing, jeder Mensch könne „mehr als einmal“ gelebt haben, auch bei Goethe gibt es Anklänge in diese Richtung; dennoch ist die Idee der Reinkarnation den abrahamitischen Religionen (Judentum, Christentum, Islam) fremder als etwa der indischen Tradition. Was indes nichts über ihre Richtigkeit aussagt. Auch von Amerika, so Steiner trocken, stehe nichts in der Bibel.
Im Kern ist die anthroposophische Sichtweise so: Es gibt nicht nur eine, sondern zwei Arten von Vererbungslinien. Zum einen ist da – heute allgemein anerkannt – die physische Vererbungslinie. Sie sorgt dafür, dass bei Tier und Mensch die Vorfahren zahlreiche Eigenschaften an ihre Nachkommen weitergeben. Dann ist da aber – heute kaum erkannt – noch eine zweite Vererbungslinie, nicht physisch, sondern geistig und somit nicht auf biologisch-genetischer Ebene nachweisbar. Es ist die geistige Entwicklungslinie einer bestimmten Individualität durch mehrere Verkörperungen hindurch, also quer durch die Zeiten und Kulturen. In gewisser Weise wird damit ein Evolutionsprozess, wie ihn Darwin für die sinnlich-physische Welt entdeckte, auch für die übersinnlich-geistige Ebene angenommen.
Anders gesagt: Kein Leben beginnt bei Null. Für die körperliche Ebene ist das ja ohnehin klar. Unser ganzer Organismus funktioniert nach biologischen Programmen aus unvordenklichen Zeiten, an die sich kein Mensch erinnern kann. Aber auch in unserer geistigen Gestalt – sagt Steiner – beginnen wir nicht bei Null, sondern tragen, ebenfalls unbewusst, Erfahrungen in uns, die aus früheren Leben stammen und die im jetzigen Dasein in neue Richtungen erweitert werden können. Auch da gibt es also eine Art Kausalität, die oft mit dem indischen Begriff Karma umschrieben wird, weil eben diese Idee dort zuerst formuliert wurde. „Meine Vergangenheit“, so Steiner, „bleibt mit mir verbunden; sie lebt in meiner Gegenwart weiter und wird mir in meine Zukunft folgen. … Ebenso wenig wie der Mensch am Morgen neu geschaffen ist, ebenso wenig ist es der Menschengeist, wenn er seinen irdischen Lebensweg beginnt.“
Selbstverständlich kann man mit einem Begriff wie Karma allerhand Humbug verbinden, so als läge darin eine unerbittliche Festlegung meines heutigen Daseins durch meine früheren Existenzen. Aber eigentlich besagt er nur, dass der Mensch, so wie er in seiner körperlichen Gestalt unendlich viel ins Leben mitbringt, auch in seiner geistigen Gestalt vieles mitbringt. Darin einen Skandal zu sehen, wäre so sinnlos wie die Beschwerde, dass man als Mensch keine Flügel zum Fliegen hat. Körperlich wie geistig muss ich mit bestimmten Voraussetzungen leben, und entscheidend ist, wie ich damit lebe. Ich werde sogar, je klarer ich diese Voraussetzungen erkenne, desto besser mit ihnen leben können. Man stößt da auf eine scheinbare Paradoxie: Im Annehmen von Karma entsteht Freiheit.
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Wolfgang Müller