Dieses Urteil ist ein „Scheinriese“ – je mehr man sich einer anthroposophischen Denkweise nähert, umso kleiner wird es und verliert an Bedeutung. Wie eine holländische Untersuchungskommission schon in den 90er Jahren feststellte, gibt es in dem 89.000 seitigen Schriftwerk von Steiner ca. 26 Passagen, die im heutigen Sprachgebrauch als diskriminierend oder rassistisch zu werten sind. An diesen wenigen Stellen arbeiten sich die meisten Kritiker ab.
Auch dass Steiner wie viele seiner Zeitgenossen über „Rassen“ nachdachte – heute würde man eher von Ethnien sprechen – und diese vor dem Hintergrund einer evolutiven Systematik zu verstehen suchte, verleitet viele zu dem oftmals schnellen Urteil, Rudolf Steiner sowie die gesamte Anthroposophie sei fundamental rassistisch.
Anthroposophen hingegen lehnen heute in der großen Mehrheit rassistische Gedanken ab – wobei, wie überall anders auch, nicht prinzipiell ausgeschlossen werden kann, dass unter ihnen, wie im Rest der Gesellschaft auch, auch einzelne Rassisten zu finden sind.
Schaut man von der Kritik auf die Motivlage der Kritiker, fällt zunächst auf, dass viele die Anthroposophie und Steiners grundlegende Gedanken über den „Geist“ oder das „Übersinnliche“ von vornherein für eine monumentale Provokation halten.
Für einen Teil der Kritiker, die mit dieser Provokation nicht zurechtkommen, ist der Rassismus-Verdacht ein leichtes und brauchbares Abwehr-Mittel. Andere Kritiker wiederum haben mit der Anthroposophie schlechte Erfahrungen gemacht und kritisieren diese zurecht. Manche der Konflikte können am einfachsten mit Feindbildern verarbeitet werden. Einzelne der Kritiker beginnen auf dieser Grundlage sogar einen persönlichen Rachefeldzug. Auch hier kann der Rassismus-Vorwurf ein dankbarer „schwarzer Peter“ werden, der schnell und unauffällig der Anthroposophie in die Schuhe geschoben werden kann
Es gibt aber auch einen kleinen Kreis an Kritikern, die sich intensiv und mit einem Qualitätsanspruch mit der Anthroposophie auseinandergesetzt haben. Ihre Kritik ist an manchen Stellen berechtigt, an anderen nicht. Manche dieser Anthroposophie-Kritiker wurden von Anthroposophie-Aktivisten hartnäckig pauschal attackiert, so dass leider in der Vergangenheit teilweise keine vernünftige Debatte entstehen konnte.
Einer von ihnen – vielleicht der profilierteste – ist der Religionswissenschaftler Helmut Zander. Er kritisiert die Anthroposophie eher grundsätzlich und teilweise schwankend – oder man könnte auch sagen mit einer gewissen akademischen Ambivalenz. Manche seiner Aussagen legen nahe, es gäbe in der Anthroposophie einen systematischen Rassismus. An anderer Stelle wiederum wird dies deutlich abgestritten: „Die anthroposophische Rassenlehre kann man werkimmanent kontextualisieren. […] Die Rassen sollten als materielles Substrat der geistigen Konstitution des Menschen nachgeordnet sein. Damit ging Steiner in Opposition zum Determinismus damaliger Vererbungstheorien. Das bedeutet: Steiner wollte kein Rassist sein – dies unterschied ihn von den Völkischen des Kaiserreichs, die nicht genug von ‚blutsmäßiger‘ Abstammung haben konnten. Kritiker, die Steiners Rassismen isolieren oder zum Zentrum seiner Weltanschauung stilisieren, werden seiner Konzeption nicht gerecht. […] Und schaut man genau hin, realisiert man, daß er nicht zu den Scharfmachern seiner Zeit gehört. In Rassenfragen gibt es um 1900 weit Übleres.“
Fazit: Anthroposophie hat weit mehr Schattierungen als es zunächst den Anschein haben mag. Das pauschale Urteil, sie sei prinzipiell rassistisch, weist daher mehr auf den Aburteilenden, als auf den Gegenstand selbst hin.
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Matthias Niedermann