Rezension: Geschichte der Waldorfpädagogik – Von ihrem Ursprung bis zur Gegenwart
Mit dem Buch Geschichte der Waldorfpädagogik von Volker Frielingsdorf ist zum Jubiläumsjahr Begründung der Waldorfpädagogik im Jahr 1919 zum ersten Mal eine umfassende Geschichte der Waldorfschulen erschienen, mit der sich diese nun l 00 Jahre bestehende Bewegung in ihrer historischen und aktuellen Dimension verstehen lässt. Ihre Aktualität zeigt sich indes nicht in der Rückschau auf ihre ungemein erfolgreiche Geschichte und eine heute weit über 1000 Schulen zählende internationalen Schulbewegung. Vielmehr muss sich die Waldorfpädagogik aktuell einmal mehr öffentlicher Kritik ausgesetzt sehen, die sie in die Riege rassistischer und verschwörungstheoretischen Ideologen stellen will. Umso wichtiger, dass es Publikationen gibt, mit deren Hilfe Waldorfpädagogik in ihren zentralen Dimensionen, ihrem historischen Kontext und den Entwicklungen in der Erziehungswissenschaft und der Geschichte der Schule verstanden werden kann.
Der Autor, Volker Frielingsdorf, ist promovierter Historiker und lehrt an der Alanus Hochschule in Alfter[1]. Als lang jähriger Oberstufenlehrer für Geschichte, Deutsch und Sozialkunde verfügt er über eingehende Berufserfahrungen an einer Waldorfschule und ihrer Selbstverwaltung.
Das Buch ist in sechs große Abschnitte gegliedert und beginnt mit der Begründung der ersten Waldorfschule in Stuttgart in den Zeiten nach dem Zusammenbruch Deutschlands 1918 und dessen gesellschaftlichen und sozialen Folgen. Sie wäre nicht denkbar gewesen ohne die Ideen und die praktische Kompetenz Rudolf Steiners, der die Bildungsfrage für den Aufbau einer neuen gesellschaftlichen Ordnung als essentiell betrachtet hatte. Sie wäre aber auch nicht denkbar gewesen ohne die Offenheit einer breiten Schicht der Bevölkerung – auch der Arbeiterschaft – und ohne den Auftrag, den der Stuttgarter Unternehmer Emil Molt an Steiner gerichtet hatte. Im Lesen dieses ersten Kapitels kann man ganz in diese Zeit, in die Begeisterung für eine neue Schule und in die Entwicklung der aus der Anthroposophie hervorgehenden zentralen bildungswissenschaftlichen Ideen eintauchen.
Die Zeit der ersten Ausbreitung (1925 bis 1933) bildet den nächsten großen Abschnitt. Die Stuttgarter Schule konnte bereits in ihren ersten Jahren auf ein bedeutendes Wachstum blicken und der Aufbau neuer Schulen erlaubte es nun, von einer Waldorfschulbewegung zu sprechen. Dass sie sich in den ersten Jahren ein solides Fundament erarbeitet hatte, zeigte auch die Tatsache, dass die neue Schulbewegung ohne Rudolf Steiner nicht nur überlebens- sondern auch entwicklungsfähig war. Allerdings stellten die Konflikte und Richtungskämpfe, die nach Rudolf Steiners frühem Tod im Jahr 1925 die Anthroposophischen Gesellschaft erschütterten, auch für die Waldorfschulen ein großes Problem dar, das in den Folgejahren die junge Bewegung schwächte.
Den epochalen Einschnitt der Machtübernahme Hitlers und der nationalsozialistischen Diktatur überlebte die Waldorfpädagogik in Deutschland nicht. In den ersten Jahren nach 1933 konnten die Schulen zwar noch weiterarbeiten, gerieten jedoch bald in eine Lage zwischen «prekärer Koexistenz und Selbstschließung» (S.156). Es war nicht überraschend, dass der individualistische, kosmopolitische und freiheitsliebende Charakter der Waldorfpädagogik den Machthabern des Dritten Reichs verdächtig wurde und zwischen der Waldorflehrerschaft und dem völkischen, nationalistischen und konformistischen Staat keine Affinität bestand. Frielingsdorf schildert die Situation in ihrer ganzen Komplexität, in der es neben klaren Abgrenzungen an manchen Stellen auch Annäherungs- und Kompromiss-Versuche gab. Dass die Waldorfbewegung in diesen Zeitumständen ihre Integrität bewahrte, zeigen indes die schmerzlichen Akte der Selbstschließung der meisten Schulen.
Ähnlich wie in der Heilpädagogik nahm auch in der Waldorfpädagogik der Wiederaufbau nach dem Krieg den Charakter einer zweiten Pionierphase an. Der Wieder und Neuaufbau von nunmehr 25 Schulen zeigt, wie groß das Bedürfnis nach einem neuen Bildungswesen war, aber auch mit welcher lnitiativkraft die Waldorfschulen ihr Wachstum gestalteten. Dies betraf nicht nur die einzelnen Schulen, sondern auch den notwendigen Aufbau einer eigenständigen Lehrerbildung und Strukturen der Zusammenarbeit innerhalb der Schulbewegung wie auch in der Vertretung ihrer Anliegen im allgemeinen Bildungswesen und der Bildungsverwaltung.
Eine «neue Wachstumsdynamik» setzte Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre ein: 1969 waren die Waldorfschulen 50 Jahre alt geworden; sie hatten nicht nur eine Erfolgsgeschichte geschrieben, sondern mussten sich auch mit der eigenen Tradition und verfestigten Denk und Handlungsmustern auseinandersetzen, die indes häufig als typisch «Waldorf» angesehen wurden. Schon in den 80er Jahren hatte Erich Gabert, einer der führenden Pädagogen, auf die Gefahren aufmerksam gemacht, die dogmatisches Festhalten einerseits und leichtfertiges, willkürliches Verändern andererseits hervorbrächten: Beides sei geeignet, der Waldorfpädagogik die Lebenswurzeln abzugraben (S. 243).
Der Fall des Eisernen Vorhangs 1989 führte zu einer nächsten, großen Ausdehnung zunächst in Osteuropa, dann in weiteren Kulturkreisen, vor allem auch in Asien. Auch in den neuen Bundesländern Deutschlands wurden neue Waldorfschulen gegründet. Wie in allen von der Anthroposophie inspirierten Lebensfeldern stellte die Expansion in zum Teil ganz andere gesellschaftliche und vor allem kulturelle Gegebenheiten auch Fragen an die etablierten Schulen und ihre Strukturen. So wurde z.B. die Methodik und Didaktik des Waldorfschulunterrichts hinsichtlich neuer Mittelstufenmodelle diskutiert, die Ausbildungsfragen gewannen neue Dynamik und Brisanz, ebenso die Themen Integration und Inklusion. Gleichzeitig sah sich die Waldorfpädagogik mit verstärkter Kritik von Seiten der Öffentlichkeit und vor allem auch aus akademischer Sicht konfrontiert.
Frielingsdorf, der auch Ko-Autor eines Buchs über die Geschichte der anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie ist, streift immer wieder auch die Verbindungen zwischen den beiden Strömungen, beginnend mit der Hilfsklasse Karl Schuberts an der ersten Waldorfschule und bis hin zu den aktuellen Entwicklungen im Bereich der Inklusion, in der einige Schulen eine Vorreiterstellung eingenommen haben.
In einem abschließenden Ausblick geht Frielingsdorf auf die Frage ein, welche Faktoren für die «bemerkenswerte Persistenz» der Waldorfschulen, verglichen z.B. mit den Schulen der Reformpädagogik, verantwortlich seien. Nach Meinung einiger Erziehungswissenschaftler läge der Grund in einer trotz ihrer Herkunft aus der Anthroposophie wertvollen Schul- und Erziehungskonzeption. Waldorflehrer stellen dagegen, es sei gerade ihre Verwurzelung in der Anthroposophie, die eine überzeugende Pädagogik hervorbringen könne (vgl. s. 394). Damit ist für Frielingsdorf die zentrale Aufgabe seiner Geschichte der Waldorfpädagogik berührt, deren eigentliche Substanz und Quintessenz herauszuarbeiten: Was «so etwas wie ihren Wesenskern ausmacht, dürfte in ihrem optimistischen Menschenbild bestehen. In dem Masse, wie dem Menschen die Teilhabe an der geistigen Welt der Ideen zugestanden wird, kann er sich aus dem Reich der Notwendigkeit in das der Selbstbestimmung erheben. Damit ist jeder Einzelne grundsätzlich zur Freiheit veranlagt. Von hierher ergibt sich als zentrales Ziel der Waldorfpädagogik wie selbstverständlich die Forderung nach einer Erziehung zur Freiheit» (S. 395). Denn die von Steiner gegebenen Grundlagen sind, auch wenn aus kritischen Positionen häufig das Gegenteil behauptet wird, nicht als Direktiven oder gar Dogmen, sondern als Hilfen zur Entwicklung eigener Intuitionen und Urteilsbildung der lehrenden zu verstehen (S. 396).
Volker Frielingsdorfs auf umfassenden Studien und intensiver archivalischer Arbeit beruhendes Buch ist eine ungemein spannende Erzählung über das Jahrhundert der Waldorfschule. Er versteht es, sowohl die großen Linien als auch die lebensvollen Details einer Geschichte zu beleuchten, deren Akteurinnen und Akteure aus eigener Initiative und Enthusiasmus handelten und gemein sam nicht nur einzelne Schulen aufbauten, sondern eine weltweite Bewegung und einen wesentlichen Beitrag zur Kultur von Bildung und Erziehung schufen. Ein Kulturbei trag in wechselvollen Zeiten, den der Autor kenntnisreich nicht isoliert als eine eigene oder gar heile Welt darstellt, sondern in die Kontexte der politischen Geschichte und Zeitgeschichte stellt. Die hohe wissenschaftliche Qualität des Buchs erweist sich auch darin, dass die kritischen Fragen, die vor allem von den Erziehungswissenschaften an die Waldorfpädagogik gestellt werden, eingebracht und diskutiert werden.
In den hundert Jahren ihrer Geschichte ist die Waldorfschule auch eine historische Tatsache geworden, die mit Distanz betrachtet werden kann und deren Wurzeln und Lebensgeschichte nicht mehr in der täglichen Praxis aufscheinen. Frielingsdorfs Darstellungen ermöglichen nicht nur einen neuen Zugang zu ihren Quellen, ihren Erfolgen, Problemen und Herausforderungen, vielmehr gestatten sie es auch, die aktuelle Situation zu beleuchten und für die Entwicklung ihrer Zukunftsperspektiven wach zu halten. Schließlich ist noch zu sagen, dass das Buch in den aktuellen Debatten einen wichtigen Beitrag darstellt, der jeder Verkürzung auf wenige mehr oder weniger schiefe Schlagworte argumentativ Paroli bieten kann.
Erstveröffentlichung des Beitrags in der Zeitschrift Anthroposophic Perspectives in Inclusive Social Development, 2-2021, S. 56-59.
[1] Hier sei auf frühere Publikationen des Autors verwiesen, deren Ertrag auch in die vorliegende Geschichte der Waldorfpädagogik eingeflossen ist. Frielingsdorf, Volker (2012): Waldorfpädagogik in der Erziehungswissenschaft. Ein Überblick. Weinheim und Basel: Beltz Juventa. / ders. (Hg.) (2012): Waldorfpädagogik kontrovers. Ein Reader. Weinheim: Juventa.